Diese Kurzgeschichte wurde bei einem Workshop anlässlich der Ausstellung in der Kunsthalle Gießen unter dem Motto „Undercover“ entwickelt und geschrieben.
Verborgen
Die Haustür stand offen.
„Hallo!? Ich da! Jelena! Hallo? Ich darf anfangen?“ Nichts rührte sich. Jelena schloss die Tür. Nachdem sie ihre Jacke ausgezogen und die Putzschuhe angezogen hatte, sah sie nach dem Zettel mit den heutigen Aufgaben. Wie jeden Mittwoch lag er auf der Kommode.
„Bitte im Wohnzimmer saugen. Heute besonders gründlich. Achtung bei den Nadeln vom Weihnachtsbaum (den haben wir schon entsorgt)! Dann Bad und Küche wie immer. Den Backofen bitte besonders gründlich reinigen – wegen des Fettes vom Gänsebraten!“ Frau Landau hatte sich Mühe gegeben, dass ihre Putzhilfe die Schrift lesen konnte.
Jelena machte sich gleich an die Arbeit. Sie holte den Staubsauger aus der Besenkammer und betrat das Wohnzimmer. Auf dem Tisch vor dem Sofa sah sie einen Stapel von Geschenken, schön verpackt. Was diese Chefin sich immer einfallen ließ! So schöne Schleifen! Besonders wertvolles Papier! Aber noch nicht ausgepackt, obwohl Weihnachten doch schon vorbei war.
Jetzt hatte Jelena keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Manche Leute, bei denen sie putzte, waren eben komisch. Das war nicht neu für sie. Sollten heute nicht auch die Gardinen abgehängt und in die Reinigung gebracht werden? So was Ähnliches hatte Frau Dr. Landau doch gesagt. Jelena war sich nicht mehr ganz sicher, da würde sie noch mal auf den Zettel schauen müssen. Aber erst einmal wollte sie die Bäder wischen. Die beiden Schlafzimmer oben mussten bestimmt auch noch gesaugt und Staub gewischt werden, also wollte sie nicht bummeln sondern schauen, dass sie mit der Zeit gut hinkäme.
Als sie Frau Dr. Landaus Schlafzimmer betrat, war sie überrascht. Bettdecke und Kopfkissen lagen auf dem Boden. Alles sah sehr zerwühlt aus, und Jelena begann sich Gedanken darüber zu machen, ob Frau Dr. Landau vielleicht in großer Eile das Schlafzimmer verlassen hatte. In Herrn Landaus, nein, er hieß ja anders, also Herr Küglers Zimmer sah es genauso aus. Beide waren, vor allem was ihre Schlafzimmer betraf, besonders ordentlich und legten
Wert darauf, das Haus in aufgeräumtem Zustand zu verlassen. Vor allem Frau Dr. Landau ging gerne noch einmal durch alle Zimmer, bevor sie zur Arbeit aufbrach. Jelena kam es immer so vor, als wollte diese Chefin nur nichts einfach so herumliegen lassen. Ordnung schien für sie sehr wichtig zu sein. Vielleicht sollte Jelena ja auch nicht irgendetwas entdecken, oder einen zu intimen Einblick in das Leben ihrer Chefs erhalten.
Ja, so war es. Sie sah viel und gleichzeitig nichts. „Jeder sein Leben“ oder so ähnlich schoss es Jelena durch den Kopf. Sie jedenfalls würde niemanden für sich putzen lassen, auch wenn sie es sich leisten könnte.
Sie sah auf ihre Uhr. Es war schon später, als sie gedacht hatte. Es blieb nicht mehr viel Zeit. Wie war das mit den Vorhängen? Wo war die Leiter? Bestimmt stand sie im Keller. Das Abhängen von einem Stuhl aus wäre zu riskant, denn es waren blickdichte, schwere Vorhänge. Fast wie in einem Theater, dunkelrot bei Frau Dr. Landauer und dunkelgrün bei Herrn Kügler. Jelena fand sie sehr schön, beinahe feierlich.
Als sie die Leiter aufgestellt hatte, spürte sie einen unerwarteten Stoß. Er kam von Innen. Niemand hatte sie berührt. Das war ihr anfangs noch klar. Aber dann verwirrten sich ihre Gedanken. Woher kamen die Schuhe, die unter dem Vorhang zu sehen waren? Nur die Spitzen schauten hervor. Es waren Männerschuhe, da war sich Jelena sicher. Stand dort jemand? Wurde sie belauert?
Die offene Haustür, die noch nicht ausgepackten Geschenke, die zerwühlten Betten – Jelena begann, alles der Reihe nach in Gedanken durchzugehen. So vieles war anders als sonst, aber sie hatte es nicht sofort gemerkt. Sie war einfach nur unachtsam gewesen. So unachtsam wie damals.
Ein leichter Schwindel überfiel sie. Sie musste sich setzen. Obwohl sie das doch nun wirklich hier oben nicht einfach so tun sollte. Aber sie fiel beinahe auf das Bett. Alles verschwamm, und sie befand sich nicht mehr an einem sicheren Ort.
Angestrengt versuchte sie, sich gegen die Stimmen zu wehren, die sie nun immer lauter vernahm. „Hier kommt keiner her“, versuchte sie sich in ihrer Muttersprache zu versichern. Aber es half nichts. Sie hatte nicht aufgepasst, damals, und deshalb war auch niemand gewarnt worden. Sie waren gekommen und hatten die Türen aufgestoßen. Sie war allein gewesen, zum Glück, aber auch das half nichts. Man nahm sie mit, in dieses große Haus, das sie Hotel nannten. Vielleicht war es wirklich einmal ein Hotel gewesen, aber dann nicht mehr. Die Schreie waren wieder da.
Jelena hielt sich die Ohren zu. Es half nichts. Sie hörte das Klopfen, das verzweifelte Schlagen an die vielen Türen. Sie hörte die lachenden Stimmen, meistens Männerstimmen, die sie betrachteten, wenn sie, wie Jelena damals vermutete, durch die Gucklöcher sahen. Nackt war sie gewesen. Schutzlos hatte sie sich gefühlt. Ausgeliefert. Auf langen Fluren verloren.
Das alles lag viele Jahre zurück. Selten, eigentlich nur noch im Schlaf, war sie wieder an den alten Orten, die sie längst verlassen hatte. Dann wachte sie in Panik auf, schweißgebadet, um sich schnell zu vergewissern, dass sie in Sicherheit war.
Jetzt war der Überfall zu plötzlich gekommen. Ihr war übel. Aber sie konnte sich nicht vorstellen aufzustehen und ins Bad zu gehen. Wer würde dann vor dem Vorhang hervorkommen? Was würde passieren? Wie gelähmt blieb sie auf dem ungemachten Bett sitzen.
Bis sie hörte, wie unten jemand die Haustür öffnete. Jelena wollte schreien, aber sie brachte keinen Laut heraus. Wie damals war sie verstummt.
„Jelena? Hallo, sind sie da?“ Das war Frau Dr. Landaus Stimme. „Ich bin noch mal zurückgekommen. Hatte mein Tablet vergessen. Wo sind Sie denn?“
Jelena erhob sich mühsam. Sie wollte sich nichts anmerken lassen. Was sollte sie denn sagen? Dass ein Einbrecher hinter dem Vorhang stand? Frau Dr. Landau würde sie glatt für verrückt halten. Leise rief sie herunter: „Bin oben. Komme jetzt.“ Sie ging die Treppe herunter und dort stand sie. Elegant wie immer. Ein bisschen zerzaust vielleicht.
„Wie sehen Sie denn aus? Ist etwas passiert? Sie sind ja ganz blass.“ „Nein, geht schon“, wollte Jelena sagen. Aber das Sprechen fiel ihr schwer. „Ich hole ein Glas Wasser. Es ist vielleicht das Beste, Sie gehen gleich nach Hause.“ Besorgt eilte Frau Dr. Landau in die Küche und kam mit einem Glas Wasser zurück.
„Ausgerechnet heute. Bei uns sieht es ziemlich durcheinander aus, nicht wahr? Das tut mir auch wirklich leid. Aber mein Mann hatte einen Anruf aus Brüssel bekommen und musste schnell weg. Und dann schickte mir meine Sekretärin eine Nachricht, dass die Firma einen Trojaner im System hätte, der drohte, die ganze IT lahmzulegen. Also haben wir beide überstürzt das Haus verlassen.“
„Die Haustür stand offen. Sie vergessen . . .“, hauchte Jelena. „Ach du meine Güte, auch das noch. Ich dachte, ich hätte sie… Naja. Ich war wirklich durcheinander. Und bestimmt hat mein Mann oben in seinem Schlafzimmer nicht aufgeräumt. Stehen da immer noch seine Schuhe herum? Er weiß genau, dass ich das nicht leiden kann. Aber manchmal . . . Da hilft alles Reden nichts.“
Jelena fühlte sich langsam wieder besser. Sie wollte aber Frau Dr. Landau auf keinen Fall erzählen, dass Erinnerungen sie überfallen und gequält hatten. Sie sah zu den vielen Geschenken. „Soll ich aufräumen? Oder weglegen? Kommen Kinder noch aus Amerika?“ „Ach nein.“ Frau Dr. Landau lachte fröhlich. Sie schien es jetzt gar nicht mehr eilig zu haben. „Das sind doch unsere Geschenkpakete für die Spendenaktion. Hatte ich Ihnen davon nicht erzählt? Unser Arbeitskreis `Hilfe für . . . (Jelena verstand nicht, was gesagt wurde)`“ und meinte nur: „Ach ja. Wirklich.“ „Meine Freundinnen machen immer so besonders komische Schleifen. Nicht? Je kitschiger desto besser. Finden die jedenfalls.“
Kitschig? Was meinte das? Fand Frau Dr. Landau die Schleifen und das Papier etwa nicht schön? Jelena erinnerte sich an voriges Jahr, als sie nach Weihnachten in diesem Haus geputzt hatte. Da hatten viele Schleifen auf dem Boden herumgelegen. Nur ein bisschen zusammengekehrt und liegengelassen. Sie war allein im Haus gewesen und hatte ein paar von ihnen aufgesammelt. Wenn sie jetzt Freundinnen ein Geschenk mitbrachte, bei Geburtstagen und so, dann benutzte sie die Schleifen für die Geschenke. Und immer staunten ihre Freundinnen, jubelten und meinten: „Die schönsten Geschenke kommen immer von dir, Jelena.“
„Wissen Sie was? Ich mache Ihnen noch einen Kaffee. Und wenn es Ihnen dann besser geht, dann können Sie bleiben und weiterarbeiten. Wenn nicht, müssen Sie nach Hause gehen und sich erholen. Einverstanden? Dann muss ich aber wirklich gleich weg. Sie wissen, die Firma. Furchtbar, was da wieder los ist.“
Jelena war einverstanden. Der Kaffee würde ihr gut tun. Und dann könnte sie weiterarbeiten.