In Gedanken an Michael Krüger. Im Holzhaus.
„Und du gehst dann heute Nachmittag sicher zu ihr?“ „Ja.“ „Ich finde es großartig, dass du die beiden Musiker für sie bestellt hast.“ „Das habe ich nicht gemacht.“ „Nein?“ „Nein, das war Anni. Die hatte die Idee.“ „Ach so. Anni. Die gute Seele. Dann wünsche ich dir einen schönen Nachmittag.“ „Danke. Aber ich werde nicht den ganzen Nachmittag bleiben können. Die Arbeit. Du verstehst.“ „Klar. Es ist ja nicht so leicht für dich. Ich meine, es wird ja nicht mehr so lange dauern.“ „Hm.“ „Ich wünsche dir viel Kraft für die nächste Zeit.“ „Hm. Ich muss jetzt. . . Danke, dass du angerufen hast.“ „Grüß sie bitte von mir. Ach, die Arme, so schwach. Und so allein. Na, gut, dass du nach ihr siehst. Ab und zu.“ „Ja,. . . Mach´s gut.“
Alma warf noch einen Blick in die Zeitung, faltete sie zusammen und legte sie auf den Tisch. Dann nahm sie rasch einen Schluck Kaffee und tippte die Telefonnummer in ihr Handy. „Ja bitte?“ Mutters Stimme klang müde. „Mutter, ich bin`s. Ich wollte dir nur sagen, dass ich noch ein paar Dinge zu erledigen habe. Dann komme ich vorbei. Heute aber nur kurz. Ich habe wirklich wenig Zeit.“ „Ja, Liebes. Denkst du bitte daran, dass du mir den Wein mitbringst?“ „Stimmt. Den hätte ich beinahe vergessen. Rosé, nicht wahr? Mach` ich.“ „Es ist so still hier. Kommst du auch wirklich?“ „Doch, Mutter, ich komme. Mach` dir keine Sorgen. Ich muss dann nur schnell weg. Ich sage das schon mal, damit du Bescheid weißt.“ „Schnell. Ja. Du hast es eilig. Das ist ja . . . oft . . .“ „Mutter, jetzt nicht. Ich muss noch ein paar Emails checken, dann bin ich gleich bei dir.“ „Emails, ach so. Und du meldest dich, wenn du fast hier bist, ja? Du weißt, ich höre die Klingel manchmal nicht. Oder sie funktioniert nicht.“ „Klar, mache ich. Ich schicke dir eine Nachricht über WhatsApp. Leg dein Handy nicht so weit von dir weg, damit du es hörst.“ „Mein Handy? Wo habe ich das denn hingelegt? Gestern habe ich . . .“ „Mutter, ich muss jetzt auflegen. Du wirst es schon finden. Nachher kommt doch auch Anni. Frag sie nach dem Handy, die weiß das bestimmt.“ „Anni? Wer?“ „Mutter, die Frau, die bei dir im Haushalt hilft. Heute ist doch Mittwoch.“ „Mittwoch. Wirklich? Schon? Ach, Anni, klar. Da muss ich noch Geld hinlegen. Wo habe ich bloß mein Portmonee? Ich bin aber wirklich ziemlich wuschig heute. “ „Mutter, jetzt, wirklich . . .“ „ Du musst. Mach`s gut, Kind. Bis nachher.“ „Ja. Bis nachher.“
„So, Mutter, hier ist der Rosé. Ich könnte schnell das Fenster öffnen. Gründlich durchlüften. Ich meine . . .“ „Nein, bitte nicht. Mir ist schon den ganzen Tag so kalt. Kannst du mir bitte die Strickjacke aus dem Schrank holen? Das wäre lieb. Anni kommt bestimmt auch gleich.“ “Klar, mache ich. Oh, ich sehe, du hast dir schon einen Tee gemacht. Schön. Die anderen Tassen sind wohl für deinen Besuch? Sogar das gute Teeservice.“ Alma erinnerte sich: Das chinesische Service war seit sie denken konnte Mutters Stolz. Das Erbe von Mutters Eltern. Doch so richtig verstanden, wie und warum ihre Großeltern eine solche Kostbarkeit kurz vor dem Krieg erstehen konnten, hatte sie nie. „Ach, frag doch nicht. Das interessiert heute doch keinen mehr. Außerdem weiß ich es auch nicht so genau. Von Leuten eben. Lass uns über etwas anderes reden.“ Auch heute fragte Alma nicht weiter. Sie sah sich in der Wohnung um. Seit ihrem letzten Besuch hatte sich nichts verändert. Mutter lebte schon drei Monate hier, aber alles wirkte wie eben gerade abgestellt. „Du hast Anni ja noch immer nicht die Bilder aufhängen lassen. Soll ich das machen? Oder gefallen sie dir nicht mehr?“ Alma hatte insgeheim gehofft, dass Mutter manche Fotos austauscht. Zum Beispiel die vergilbten von den Großeltern, die finster dreinblickten und in ihrer Kleidung kaum Luft zu bekommen schienen. Ein Foto von sich selbst hatte Alma nie entdecken können. „Doch, doch. Natürlich gefallen sie mir, vor allem die Fotos. Die müssen wieder einen guten Platz bekommen. Doch vielleicht das Bild mit dem Reh. Was meinst du?“ „Ja, wahrscheinlich hast du recht.“ „Alma, ich weiß nicht, ob ich hier bleiben will. Es riecht so komisch. Irgendwie fremd. Vielleicht kann ich doch zurück? Wo ist eigentlich der Sekretär? Ich brauche ihn. Wo soll ich sonst meine Briefe schreiben?“ „Ach Mutter, das haben wir doch x-mal besprochen. Schau, wie schön der Kirschbaum vor dem Fenster blüht.“ Alma sah wieder das Haus vor sich. Groß. Alt. Die vielen Möbel. Zu jedem Teil waren Mutter Geschichten eingefallen. “Hier hat Tante Edith gerne gesessen. Den Sessel kann ich doch nicht einfach weggeben. Mein Sekretär. Ich . . . und die Briefe . . .“ „Mutter, wann schreibst du denn heute noch Briefe. Und an wen?“ „Und wer schreibt dir noch?“ hatte sie hinzufügen wollen, aber die Worte waren ihr im Hals stecken geblieben. Es waren furchtbare Wochen, in denen sie das Haus ausräumten. Für beide.
„Ja, schön. Also, ich kann nicht lange bleiben. Ich habe am Telefon schon gesagt, dass ich nicht viel Zeit habe. Wir haben nachher noch eine wichtige Konferenz. Nächstes Wochenende kann ich kommen. Dann können wir Bilder zusammen aufhängen. Was meinst du?“ „Anni kommt ja nachher. Kannst du mir bitte noch das Buch dort drüben auf der Fensterbank auf meinen Nachttisch legen? Das wäre lieb von dir.“ „`Einmal einfach`?“ las Alma den Titel des Buches laut vor sich hin. Und legte es auf den Nachttisch. „Das sind Gedichte, Kind. Schöne Gedichte.“ Mutter flüsterte fast. „Gedichte. Seit wann liest du Gedichte? “ „Ich lese nicht. Anni liest sie mir vor. Und ich träume.“ Mutter kicherte. „Aha. Du träumst.“ Alma musste lachen. „Wovon träumst du denn?“ „Von meinem Leben. Wem ich noch begegnen möchte, bevor ich gehe.“ „Wem willst du begegnen?“ „Na dem Mann hier, der die Gedichte geschrieben hat. Ich frage ihn, was er mit den Stühlen gemacht hat.“ „Von welchen Stühlen sprichst du?“
Alma sah auf die Uhr. Mutter schien ihr irgendwie verwirrter als sonst. „Mein Güte! So spät schon. Ich müsste eigentlich schon längst . . .“ „Du musst. Ich weiß.“ „Bitte jetzt keine Vorwürfe. Du hast ja keine Ahnung. Ehrlich. Bitte erklär mir das noch schnell mit den Stühlen.“ „So ganz schnell wird das nicht gehen. Ich weiß ja auch gar nicht, ob ich das noch so richtig alles zusammenkriege, wie das damals war.“ „Versuch`s. Die einfachere Version. Möchtest du vielleicht ein Glas Wasser? Nächste Woche kannst du mir das ja genauer erzählen. Aber jetzt vielleicht die kurze Version, also, was war mit den Stühlen?“ Mutter holte tief Luft. Das Reden schien sie anzustrengen. „Das war so. Ich hatte einen Artikel über Arbeitszimmer gelesen. Mit Fotos. In einem Journal. Bekannte Persönlichkeiten sollten etwas zu ihrem Arbeitszimmer erzählen. Ich kannte ihn. Also den, der die Gedichte geschrieben hat, aus der Zeitung. Er hatte gesagt, dass es bei ihm einen großen Tisch gäbe mit Stühlen drum herum. Jeder Stuhl stehe für eine Tätigkeit. Jetzt käme die Zeit, wo er so nach und nach die Anzahl der Stühle reduziere, weil sich ja auch seine Tätigkeiten reduzierten. Ein Abschied auf Raten sozusagen. Und dann auf der Buchmesse, weißt du, in Frankfurt. Da . . .“ „Nein Mutter, bitte jetzt nicht noch eine Geschichte.“
„So viel hat sie ja Jahre nicht mehr erzählt“, dachte Alma. Sie musste sich setzen. Ihre Mutter auf der Buchmesse? Was machte sie da? Sie würde später fragen. Vielleicht sollte sie doch auf Anni warten. Dann könnte sie erfahren, was der Arzt gesagt hatte, als er gestern bei Mutter gewesen war. Anni genoss Mutters Vertrauen und war immer dabei, wenn der Arzt kam. Alma sah wieder auf die Uhr und entschied sich, aufzubrechen.
Alma hielt ihren Autoschlüssel in der Manteltasche fest umklammert. Dann gab sie sich einen Ruck. „Ich gehe noch schnell ins Bad. Ich ruf` dich heute Abend noch mal an. Also bis nachher, Mutter.“ Sie verschwand im Bad, kramte den Lippenstift aus ihrer Tasche und begutachtete ihre Haare vor dem Spiegel. Das Rot des Lippenstiftes passte perfekt zum Rot ihrer Blus. Es klingelte. Alma stöhnte kurz auf. „Na prima“, dachte sie laut und rief Richtung Wohnzimmer: „Mutter, ich geh schon!“
Anni stand ein wenig versteckt hinter einem Mann, der Alma freundlich anlächelte. Lächelte er freundlich? Er schien verwirrt, seine Augen musterten sie, und ihre Blicke trafen sich. Für Sekunden schien es beide die Sprache verschlagen zu haben. „Ähm, wir möchten zu . . .“ „Zu meiner Mutter? Kommen Sie bitte herein. Hallo Anni.“ „Hallo Frau Engfurt“, sagte Anni. „Das sind Viktor und Maria. Ihre Mutter erwartet uns bereits.“ „So? Na dann. Kommen Sie doch bitte herein. Hallo Anni.“ Im gleichen Moment fiel Alma der Lippenstift aus der Hand und rollte Viktor vor die Füße. Alma bückte sich rasch. Viktor wollte ihr zuvorkommen und beinahe stießen ihre Köpfe zusammen. Sie musterten sich erneut. Alma ärgerte sich über ihre Ungeschicklichkeit. „Entschuldigung“, murmelte sie etwas gehetzt. „Ich dachte . . . ich muss nämlich . . . eigentlich wollte ich . . . also, meine Mutter . . .“ Weiter kam sie nicht. Denn jetzt stützte Viktor sie am Ellenbogen und half ihr aufzustehen. Er lächelte, während er ihr den Lippenstift reichte. Seine Augen funkelten. So kam es Alma jedenfalls vor. „Der scheint sich ja prächtig über mich zu amüsieren“, dachte sie. Aber irgendwie war ihr auch zum Lachen zumute, denn alles an dieser Situation war außerordentlich komisch. Das Komischste, fand sie, waren seine Augen. Alma wurde leicht schwindlig. Irgendetwas stimmte nicht. Sie musste doch weg. Man erwartete sie. Doch sie war neugierig geworden. Dann warf sie Anni einen Blick zu und zog mehrmals eine Augenbraue nach oben, sodass Anni antwortete: „Viktor und Maria sind die beiden Musiker, von denen ich Ihnen erzählt habe. Sie erinnern sich doch, Frau Engfurt?“ „Ja, die Musiker. Sicher, ich erinnere mich.“ Alma hatte es vergessen. Sie holte tief Luft. „Klar, das Konzert.“
Vergangene Diskussionen tauchten vor ihrem inneren Auge auf. „Du brauchst mich auch nicht immer wieder zu fragen, Mutter, ob ich dich in ein Konzert begleiten will. Will ich nicht. Jedenfalls nicht in d e i n e Konzerte. Das bringt einfach nichts. Ich langweile mich dort zu Tode. Also lass` es! Und bitte keine Klavierkonzerte. Die schon gar nicht.“ Schon als Kind hatte sie sich gewehrt. Wie sich herausstellte, erfolgreich. Wenn sie sang, fühlte sie sich elend. Traurig. Am Klavier wurde ihr übel. Die letzten Unterrichtsstunden musste sie abbrechen. Es war etwas passiert. Was, wusste sie nicht. Von ein auf den anderen Tag versagte ihr die Stimme. Ihre Finger wurden schnell müde. Wie gelähmt. „Du singst so schön. Deine Mutter ist sicher stolz auf dich. Und wie du spielst! Nicht jede hat so eine Begabung, Kind.“ Das war Tante Edith gewesen, Mutters Schwester. Mutter nannte sie nur die „Kittelschürzendame“, denn Edith wohnte auf dem Dorf, hatte einen großen Garten, den sie mit viel Liebe und Sorgfalt bewirtschaftete und in dem alles wuchs, was für die Küche gebraucht wurde. Auch wunderschöne Blumen. Jeden Sommer durfte Alma zu ihrer Tante, die sich am Abend mit ihr zusammen auf den alten Sessel, der jetzt bei Alma stand, niederließ und ihr vorlas. Die schönsten Stunden für Alma. Edith versuchte vergebens, Alma zum Weitersingen zu überreden.
Anni und die anderen standen immer noch an der Türschwelle.
„Kommen Sie doch herein.“ Nacheinander betraten sie das Wohnzimmer. Mutter hatte sich erhoben und stand etwas wackelig vor ihrem Besuch. Wie klein sie ihrer Tochter plötzlich vorkam. Und schutzlos. Voller freudiger Erwartung blickte Mutter zu dem Fremden auf. „Wie wunderschön das ist, dass Sie gekommen sind. Anni hat schon viel von Ihnen erzählt. Ich freue mich sehr, dass das endlich geklappt hat. Nehmen Sie doch Platz, bitte. Möchten Sie einen Tee? Wissen Sie, meine Tochter und ich, also das ist . . . wir beide haben nicht unbedingt . . . ach, das ist jetzt auch egal. Liebes, wolltest du nicht gehen?“ „Ja, gleich. Aber vielleicht rufe ich doch besser im Büro an und sage Bescheid, dass . . .“ „Musst du nicht, Alma, ist schon gut. Danke für alles. Ich komme zurecht. Und wenn nicht, dann hilft mir Anni. Nicht wahr, Anni?“
Alma ging in die Küche. Sie sagte in der Firma Bescheid, dass sie nicht kommen würde. Sie bat Angelika, sie zu vertreten. Ihre Kollegin äußerte vollstes Verständnis. Man wusste, dass es Almas Mutter nicht gut ging. Ein nicht zu überhörender triumphaler Unterton in Angelikas Stimme machte Alma deutlich, dass die Abwesenheit für ihre Kollegin ein Punktgewinn war. Sie jedenfalls würde Alma bestimmt nicht vermissen. „Ich habe nur schnell Bescheid gesagt. Dass ich nicht komme. Ist schon okay“, erklärte sie, als sie ins Wohnzimmer zurückkam. „Das wird vielleicht ein bisschen eng jetzt“, sagte ihre Mutter, „aber wenn du noch bleiben willst, dann stell dir noch einen Stuhl dazu und wir rücken wir noch ein wenig zusammen.“ Als alle saßen – Anni hatte neben Mutter Platz genommen – wusste keiner etwas zu sagen. Alma blickte im Wechsel zu Viktor und Maria. „Ein ungleiches Paar“, dachte sie. „Die passen nicht hierher. Als hätte man sie von der Straße direkt hierher verfrachtet. Naja, Anni kennt sich sicher nicht so gut aus. Mutter wird enttäuscht sein. Dieser Mann! Der soll Klavier spielen? Sieht in seinem Hemd aus, als würde er gleich in den Wald gehen. Oder in eine Werkstatt. Muskeln hat er ja. Man darf gespannt sein.“ Mutter nahm noch einen Schluck Tee und sagte dann: „Anni, können Sie den Herrschaften bitte noch Tee nachschenken?“ Anni stand schnell auf, aber Viktor bat sie, sich wieder zu setzen. „Wir sollten jetzt anfangen. Bitte, ich möchte nicht unhöflich sein, aber wir sind ja nicht wegen des Tees gekommen.“ Und zu Maria gewandt: „Meinst du nicht auch?“ Maria blickte erschrocken zu den anderen, unsicher, ob es nicht unhöflich war, dem Wunsch der Gastgeberin nach einer weiteren Tasse Tee für sich und ihre Gäste abzuschlagen. Sie nickte vorsichtig. Die Haare straff zu einem Knoten gebunden, wirkte sie in ihrer sportlichen Kleidung, als müsse sie beim Aufräumen mit anpacken statt Klavier zu spielen. “Die muss wohl ihre Locken bändigen. Aber sonst: ein graues Mäuschen“, da war sich Alma sicher. Sie überlegte, ob Viktor Maria vielleicht aus Mitleid mitgenommen hatte. Wenn sie überhaupt zusammen waren. „Was denke ich denn da? Bin ich blöd oder was? Das geht mich nun wirklich überhaupt nichts an. Nicht das Geringste.“ Trotzdem konnte Alma nicht aufhören, sich über die Beiden Gedanken zu machen. Sie sah Viktor vor sich und stellte sich vor, wie er aß. Ihm schmeckte es. Vielleicht kochte er sogar mit besonderer Hingabe. Und Maria? „Dreht bestimmt jedes Salatblatt um. Die ist sowieso etwas mager.“ Viktor stand auf und ging zu dem Klavier, das etwas versteckt neben der Anrichte stand. „Das ist also das gute Stück.“ Er spielte einige Akkorde. „Oh, alter Junge. Du bist wohl auch ganz schön in die Jahre gekommen, was?“ Er schaute zu Mutter, die mit großen Augen dasaß und etwas ratlos wirkte. „Na, macht nichts. Irgendwann einmal muss das Teil hier zum Doktor. Oder der Doktor kommt zu ihm.“ Er grinste, was Alma ziemlich unpassend fand. „Wie peinlich“, dachte sie und doch wusste im nächsten Augenblick nicht, ob sie die Bemerkung Viktors peinlich fand oder das unbenutzte und in die Jahre gekommene Klavier. „Die äußere Aufmachung stimmt ja, aber die Innereien lassen gewisse Schwächen hören. Nun denn. Lassen wir uns nicht verschrecken. Maria?“ Maria stand auf und sagte zögernd: „Entschuldigen Sie bitte, kann ich noch kurz ins Bad? Ich müsste . . .“ „Aber klar.“ Anni zeigte Maria die richtige Tür. Viktor meinte, zu Mutter gewandt: „Anni hat gesagt, dass Sie Schubert-Lieder mögen. Wir werden also einige seiner Lieder vortragen, wenn Sie nichts dagegen haben.“ „Ich? Dagegen? Aber sicher nicht. Wo haben Sie denn Ihre Noten?“ „Die haben wir hier“, antwortete Viktor und tippte mit dem Zeigefinger an seine Stirn. „Oh“, entfuhr es Mutter. „Ja dann. Fangen Sie bitte an.“ Alma bedauerte im gleichen Moment, hiergeblieben zu sein. „Schubert!“ Sie stöhnte leise auf. Bilder tauchten auf. Verwirrende Erinnerungen. Ein Satz fiel ihr ein: „Du störst!“
Maria kam aus dem Bad zurück. Alma erschrak. Das war Maria? Die gleiche Person, von der sie vor ein paar Minuten noch gedacht hatte, dass sie unscheinbar und nichtssagend aussähe? Maria hatte das Haarband gelöst und sich ein wenig geschminkt. Die Haare fielen in wilden Locken auf ihre Schultern. Ihr Sweatshirt hatte sie gegen ein mit Paletten besetztes Oberteil ausgetauscht. Sie lächelte in die Runde, immer noch ein wenig unsicher, aber, so schien es Alma, voller Kraft und erwartungsvoller Freude. Etwas drehte sich in Almas Magen. Ihr wurde leicht übel. Maria setzte sich ans Klavier und ließ ein paar Akkorde erklingen, spielte einige Läufe und gab dann durch Kopfnicken zu erkennen, dass sie bereit war. Viktor hatte sich neben das Klavier gestellt. Mürrisch schaute Alma auf ihre Hände und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. „Gemütlich ist auch was anderes“, dachte sie noch, als Maria zu spielen und Viktor zu singen begann. „Zu Dionysos dem Tyrannen schlich . . . “ Es lag nicht am Text. Almas Gedanken sprangen, suchten einen Punkt. Bilder aus der Schule tauchten auf. Sie lächelte. Im Auswendiglernen war sie nicht schlecht gewesen. Sie blickte auf. Viktors Augen waren fest auf sie gerichtet. „Das sollst du am Kreuze bereuen.“ Dieser herrische Ton. Warum kroch er an Alma hoch, wie eine sich ankündigende Katastrophe? Warum erschrak sie? Was war falsch? Im nächsten Moment änderte sich der Tonfall. Viktors Stimme klang weich. „Ich bin“, spricht jener, „zu sterben bereit.“ „Ja, schon.“ Alle hörten, was Almas Mutter leise gehaucht hatte. Keiner wagte etwas zu sagen und Viktor sang weiter. „Ich flehe dich um drei Tage Zeit.“ „Drei Tage . . . so viel Zeit haben wir nicht. Und ich . . .“ Mutter sah erschrocken auf. „Habe ich was Falsches . . . ?“ Anni und Maria wandten ihre Blicke ab. Viktor tat, als habe er nichts gehört, machte nur eine etwas längere Pause. „Frau Engfurt, soll ich vielleicht ein Glas Wasser holen? Schauen Sie, Ihre Mutter, sie sieht plötzlich so blass aus“, flüsterte Anni. Alma winkte ab. „Jetzt nicht. Danke. Vielleicht später.“ „Doch dir ist die Strafe erlassen.“ „Wenn es so einfach wäre. Wird es nicht.“ Wieder hatte Mutter nur gehaucht.
Alma sah ihre junge Mutter und sich selbst als Kind. Mutter erwartete Besuch. Alma sollte im Kinderzimmer bleiben. Eine ganze Stunde lang. Mutter erschien wie verwandelt. Sie lachte sogar, aus vollem Hals. Das tat sie sonst nie. „Mutter leuchtet“, dachte das Kind. Immer an diesem Tag, wenn Mutter sang, einmal die Woche, eine Stunde lang. „Meine glückliche Mutter“, hatte das Kind geglaubt. Das Leuchten machte ihr damals Angst. Mutter würde bald weggehen. Für immer. Da war sich das Kind sicher. Mit Herrn Schubert. Der eigentlich Wolfgang hieß und immer mittwochs kam. Zur Stimmbildung. Das Kind nannte es Mutters Leuchttag. Einmal hatte das Kind es gewagt zu fragen. Beim Abendessen mit Vater. „Mama, wirst du fortgehen? Mit Herrn Schubert?“
„Und schweigend umarmt ihn der treue Freund und liefert sich aus dem Tyrannen.“ Die Erinnerungen brachen plötzlich ab. Mutter sang nicht mehr, nachdem Alma gefragt hatte. Das Leuchten war verschwunden. Sie ging nicht fort. Aber sie war auch nicht geblieben. „Anni, können Sie mir bitte die Decke bringen? Mir ist kalt.“ „Aber Mutter, das kann ich doch . . .“ „Nein, nein, Liebes, ist schon gut. Lass das ruhig Anni machen. Das brauchst du nicht. Ja, so ist gut. Danke, Anni.“ Viktor ließ sich nicht unterbrechen. „Tssss.“ Mutter schüttelte fast unmerklich den Kopf. „Dass einer, der so schöne Gedichte schreibt, so dumm sein kann.“ Keiner wusste, was sie meinte. Alma dachte an das Buch. „Einmal einfach“ von Michael Krüger. Vielleicht fand sich darin ein Hinweis auf Mutters wirre Gedanken. Sie würde später darin blättern. Vielleicht. Sie blickte wieder zu Viktor, der sich offenbar durch Mutters Worte nicht beirren ließ. Er setzte seinen Vortrag fort. Mutter redete einfach weiter, flüsternd: „`Dreht Schubert das knarrende Rad der Sehnsucht, als gäbe es eine Welt, die ihn braucht`. Als g ä b e! Einfach lächerlich. Und so entsetzlich dumm. Der hier singt, der weiß es besser. Wie heißt er noch gleich? Wolfgang? Was meinen Sie, Anni?“ „Äh, ja, ich weiß jetzt nicht so genau, was . . . Nein. Das ist doch. . . Möchten Sie vielleicht noch eine Tasse Tee?“ „Ihre Augen“, dachte sie. „Damit stimmt etwas nicht. Mutter entfernt sich. Entschwebt. Wir sind nicht mehr da für sie. Sehen das die anderen denn nicht?“
Alma erschrak. Die Angst kannte sie. Die gleiche Angst hatte sie damals nach dem Abendessen mit den Eltern gehabt. Mutter sah sie einfach nicht mehr. Wenn das Kind nach ihr rief, kam sie, sah aber über sie hinweg, als wäre sie Luft. Sprach in das Zimmer hinein, blickte sie nicht an, und ihre Stimme hörte sich leer an. Alma fühlte sich bestraft. Ohne zu wissen, wofür. „Die Sonne geht unter . . . und weinen vor Schmerz und Freude.“
Viktor sang. Maria spielte. Bekamen sie denn von all dem hier nichts mit? Alma fühlte Wut in sich aufsteigen. „So wie Maria. So hätte ich sein sollen. So hübsch. So begabt. So erfüllt von Musik. Mit einem Mann an meiner Seite, der singt wie Viktor. Ich hasse ihn. Schon jetzt.“ Wieso schon jetzt? Was fühlte sie denn wirklich? Alma wusste nicht, was sie fühlte. Sie spürte nur, wie die Stimme Viktors Macht über sie bekam. Etwas löste sich. Sie fühlte sich schutzlos, ausgeliefert. Und glücklich. Für einen kurzen Moment. Wie zur Ablenkung blickte sie auf die Hände ihrer Mutter, die ruhig auf der Decke lagen. „Sie wirken so friedlich“, dachte Alma, „fast beruhigend. Früher sind sie mir so mächtig vorgekommen. Wenn sie mich festhielt. Festhalten, das konnte sie. Umarmen nicht. Zart waren sie eigentlich immer gewesen. Aber ohne diese Flecken.“
Alma war verwirrt. Sie fühlte sich überrumpelt. Woher kam plötzlich diese verzweifelte Wut? Die ihr unbekannte Sehnsucht nach Zärtlichkeit? All die Erinnerungen und wirren Gedanken? Sie wollte aufstehen, Atem holen, an die frische Luft. Aber sie blieb sitzen. „Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn“, sang Viktor unverdrossen weiter und Mutter unterbrach ihn. Maria hörte auf zu spielen und Anni erschrak. Mutters Stimme klang plötzlich herrisch. „Sie besingen die Treue? Schiller und sein Wahn! Wie? Schubert! Man sollte beide abschaffen. Man braucht sie nicht mehr. Treue bringt Unglück. Wussten sie das nicht? Wenn man nicht mehr untreu sein darf! Ich weiß, wie es ist, wenn ein Tyrann die Treue erzwingt. Nicht wahr, Alma?“ Sie schrie fast. Keiner wagte etwas zu sagen. Sogar Viktor schien verwirrt und beendete leise, wie in der Ferne verklingend, seinen Vortrag. Es herrschte Stille.
„Sie hat Fieber, das ist doch alles zu viel für sie“, dachte Alma. Sie wollte aufstehen, etwas Beruhigendes sagen, irgendetwas tun. „Es ist vielleicht besser . . .“ Weiter kam sie nicht. Mutter war plötzlich in sich zusammengesunken. Ihr Atem ging stockend. Leise sprach sie: „Wisst Ihr, diese Sehnsucht. Sie tut so weh. Plötzlich ist alles grau. Es gibt nichts mehr. Nichts. Könnt Ihr Euch das vorstellen? Wie soll man denn mit dem Nichts leben? Ich konnte es nicht. Da habe ich einfach aufgehört zu atmen. Richtig zu atmen, meine ich.“ Maria hatte sich erhoben und kniete vor Mutter, nahm ihre Hände. „Heute spielen wir für Sie. Wir spielen diese Sehnsucht, weil wir sie kennen. Deshalb gibt es für uns diese Musik.“
Alma war aufgesprungen. „Was bilden Sie sich ein? Kommen hier für einen Nachmittag vorbei und bringen meine Mutter durcheinander. Sehen sie nicht, dass das nicht geht? Anni! Sagen Sie doch was!“ Doch Anni antwortete nicht und Alma schrie. „Gehen sie jetzt! Es ist alles zu viel.“
„Für dich, mein Kind. Nicht für mich. Ich weiß jetzt, wie es war. Damals. Als plötzlich alles abbrach.“ Mutter schaute Alma nicht an, während sie sprach. Sie sah aus dem Fenster. „Siehst du den Baum dort? Er blüht. Er wird Kirschen tragen. Bald. Ich gehe jetzt. Wolfgang?“ Sie schaute zu Viktor. Dann zu Alma. „Du verstehst es nicht. Weil du noch klein so bist. Aber schon so vernünftig. So schrecklich vernünftig.“ Dann blickte Mutter zu Viktor. „Kennen Sie das Lied ´Erster Verlust´? Ich wünsche mir, dass Sie das singen. Das wäre wirklich schön.“ Ihre Stimme klang schwach. Sie zitterte. Maria war aufgestanden und stellte sich neben Viktor. „Erlauben Sie, dass ich das singe? Für Sie? Es wäre mir eine große Ehre.“ „Ja können sie das denn? Ich meine, . . .“ „Ich werde es versuchen. Viktor?“
Viktor setzte sich ans Klavier. Kurz blickte er zu Alma. Schaute er entschuldigend? Alma wusste es nicht. Aber es kam ihr wie eine lautlose Verständigung zwischen ihnen beiden vor. Als suchten sie nach etwas. Und als wären sie allein. Sein Blick fühlte sich gut an. Wie eine wärmende Berührung. Alma staunte und erschauerte, während Maria sang: „Ach, wer bringt die schönen Tage,
Jene Tage der ersten Liebe,
Ach, wer bringt nur eine Stunde
Jener holden Zeit zurück!
Einsam nähr ich meine Wunde,
Und mit stets erneuter Klage
Traur ich ums verlorne Glück.
Ach, wer bringt die schönen Tage, Jene holde Zeit zurück.“
Maria schien zu schweben. Weder Anni noch Alma noch ihre Mutter sagten ein Wort, als sie fertig war. Alma verspürte den Wunsch, zu Mutter zu gehen, sich neben ihren Sessel zu knien und ihren Kopf in ihren Schoß zu legen. Aber sie wagte nicht sich zu bewegen. Sie sah zu Mutter, die lächelte. „So ist es gut. Bitte ein Lied noch. Dann kann ich, . . . Maria, so heißen Sie doch? Können Sie bitte singen `Der Tod und das Mädchen`? Ich brauche Schubert. Und Claudius. Jetzt.“ Mutter sprach jetzt mit leiser Stimme. Ihre Glieder zuckten. Ihr Atem stockte nach jedem Wort. Maria zögerte, bis sie begann: „Das Mädchen.
Vorüber, ach, vorüber! Geh, wilder Knochenmann . . . “ „Nein, diese Strophe nicht!“ Die anderen erschraken. Mutters Stimme klang noch entrückter, aber irgendwie auch energisch. „Nur die andere Strophe. Sie wissen schon . . . Die letzte.“
Maria verstand. Sie sang:
„Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!
Bin Freund und komme nicht zu strafen. Sei gutes Muts! Ich bin nicht wild, Sollst sanft in meinen Armen schlafen.“
„Ja.“ Dann blieb es still.
„Mutter?“