Es treffen sich: Isolde(I), Bärbel (B), Annemarie (A), Gabriele (G) und Erika (E); allerdings sitzen sie nicht in einem Raum beieinander, denn sie halten Abstand. Das Treffen findet virtuell bzw. digital statt. Jens, der Neffe von Bärbel, hat dies möglich gemacht. Es ist also eine Art Videokonferenz. Sie sind darin noch nicht richtig geübt. Alle Fünf sind in einem Alter, das man gegenwärtig mit dem Wort Risikogruppe zusammenfasst. Ansonsten muss man sie sich weitgehend oder doch einigermaßen fit vorstellen, abgesehen von ein paar kleinen oder größeren Baustellen, als da sind (hier kurz zitiert): „Mein Knie…“ „Bei mir ist es eher die Hüfte…“ „Ich muss unbedingt zum Zahnarzt, das Implantat oben links…“ Aber sonst sind sie ganz gut beieinander. Sie haben sich zum Kaffee- bzw. Teetrinken, wie gesagt, per Videokonferenz, zusammengefunden. Ihnen gemeinsam ist, dass sie in einem Chor singen. Die Proben fallen allerdings zurzeit aus.
I: Das ist schön, dass das klappt mit der Konferenz. Toll. Erika, kannst du dich ein bisschen aufrechter hinsetzen, sonst sehe ich dich so schlecht. So, ja, das ist besser.
G: Du brauchst nicht zu schreien, Isolde, wir hören dich auch sonst ganz gut.
B:Ich habe mir einen leckeren Tee gekocht. Riecht ihr, wie gut der riecht? Ach so, nee, geht ja nicht… Aber was ich euch fragen wollte, gestern war ja Dienstag, also eigentlich unser Probenabend. Was habt Ihr da so gemacht?
B: Ich habe ferngesehen. „In aller Freundschaft“.
I: Ach, worum geht es denn da?
B: Das ist eine Serie. Die läuft schon unglaublich lange. Wie früher Dallas. Ihr erinnert euch? Also die jetzige Serie spielt in einer Klinik in Leipzig. Ärzte retten Leben und sind immer freundlich.
E: Das bräuchte ich jetzt nicht unbedingt, Klinik, Ärzte, Krankheiten. Es geht ja heute um nichts anderes mehr.
B: Hier ist es aber eben schön. Es fügt sich immer alles. Am Ende wird alles gut. Und die Ärzte – so schöne Menschen. Die kommen sogar nach Hause, wenn es mal ganz schwierig wird. In der Ehe und so.
I: So, das findest du schön?
B: Naja, was heißt schon schön. Die haben ja auch ihre eigenen Sorgen. Die Ärzte. Die Schwestern. Menschen eben wie du und ich, aber dann doch besser. Irgendwie.
I: Ich mache was ganz anderes. Das glaubt ihr nicht. Ich klicke auf „Sofa-Turnen“ in meinem Laptop und dann kommt eine nette junge Frau – naja, so ganz jung ist sie auch nicht mehr – und turnt mir was vor. Da gibt es verschiedene kleine Einspielungen. Für Nacken, Rücken und anderes. Es dauert ungefähr zwei Minuten und dann sagt sie: „Geschafft!“ Das ist nicht so anstrengend und tut gut.
B: Sozusagen für Couch-Potatoes oder wie. Klingt nicht sehr anspruchsvoll. Ins Schwitzen kommt man da wohl nicht?
I: Du musst das nicht so streng sehen. Ich habe ja außerdem ein Buch in unserem Regal gefunden, ganz hinten. „Brigitte-Gymnastik“. Daraus will ich auch mal ein paar Übungen machen. Das Buch ist aber von 1992, da war bei mir noch Vieles ganz anders. Ob ich das jetzt noch mal so hinbekomme, ich weiß ja nicht…
G: Annemarie, du guckst so ernst. Was ist denn los? Und gesagt hast du auch noch nichts.
A: Was soll ich denn sagen? Das interessiert euch doch sowieso nicht. . . Ich sag´s jetzt doch mal: ich esse Schokolade und trinke Rotwein.
Alle anderen: ANNEMARIE!!! Also sag mal!!!
A: Ich wusste, dass ihr entsetzt reagiert. Aber ich finde es halt blöd, dass ich die jungen Leute nicht mehr treffe.
G: Welche jungen Leute denn? So viele sind es ja nun auch wieder nicht, bei uns im Chor.
A: Doch. Immer, nach dem Chor, sind wir zusammen ein Stück auf dem Nachhauseweg gegangen. Wir Alten, also Kurt und ich und drei von den jüngeren. Haben gelacht, die Sorgen geteilt, dass wir es nie lernen, so richtig, was wir gerade üben. Dann uns Mut gemacht. Und manchmal, wenn es wärmer war, haben wir einen Umweg über den Biergarten gemacht und einen Schoppen zu uns genommen. War richtig nett.
G: Soso, einen Schoppen. Ich mag kein Bier. Bärbel, wie heißt denn dein Tee? Vielleicht will ich den auch mal probieren.
B: Gerne. Ich kann dir mal eine Tasse. . . Ach so, geht ja nicht. Später, wenn es wieder losgeht, dann bringe ich dir mal welchen mit. Was hast du denn gemacht, Gabriele, gestern?
G: Ich? Äh, ich habe gelesen. Da habe ich noch so alte Fachliteratur, darin habe ich geguckt. Sehr interessant, für mich. Euch interessiert das wahrscheinlich weniger.
I: Ach ja, was war es denn?
G: Das eine heißt „Vom Spiel zu Kreativität“ von einem Kinderarzt und Psychoanalytiker, der sich unter anderem Gedanken über, wie er es nennt „Die Fähigkeit, allein zu sein“ bei Kindern und Erwachsenen gemacht hat.
I: Aha. Und das Zweite?
G: „Die Unfähigkeit zu trauern“ von den beiden Mitscherlichs.
I: Und das ist interessant? Tut dir das gut?
G: Schon, irgendwie. Ich dachte halt, dass es heutzutage, wo es ja viel um Alleinsein geht, man sich da mal . . . Und, auch wenn es in dem Buch über die Unfähigkeit zu trauern, um eine andere Zeit geht, die heutigen Zeiten doch auch sehr traurig sind.
A: Die Psychos! Immer müssen sie grübeln.
G: Ich grübele nicht! Ich denke nach. Bekomme Anregungen, Mensch . . .
E: Ach Kinder, wir wollen doch nicht streiten. Ich sage jetzt mal, was ich so mache. Ich nähe Masken! Ich habe hier schon eine richtige Nähwerkstatt.
A: Das ist jetzt mal was richtig Sinnvolles. Oh, ich habe gerade eine Nachricht bekommen! Bei mir hat es gepiept!
Alle anderen: Bei mir auch. Das gibt es ja nicht. Bei allen gleichzeitig. Wenn das kein Zufall ist.
G: Der Meister!
I: Welcher Meister? Ach ja! Jetzt sehe ich es auch. Der Chef!
E: Endlich schreibt er mal wieder. Ich dachte schon, er hätte uns . . .
B: Der doch nicht. Oh, schaut mal, da sind auch Hinweise für Übungen dabei. Ich gucke gleich mal. Ach, die sieht aber nett aus.
I: Der Lippenstift ist ein bisschen dick aufgetragen. Findet ihr nicht?
E: Nee, finde ich nicht. Ich habe mir so einen ähnlichen vor längerer Zeit auch gekauft. Sieht doch toll aus.
A: Und unter der Maske? Auch toll?
Zwei Wochen später, die gleichen Damenrunde. Videokonferenz, bei Tee, Kaffee, ein bisschen Schokolade und selbstgebackenes Salzgebäck.
A: Und, habt Ihr schon Stimmbildung gemacht?
B: Fast jeden Morgen, na, sagen wir mal ab und zu. . . Nett, die jungen Leute. Man fühlt sich beinahe persönlich angesprochen, als wären sie bei uns im Wohnzimmer. Es gibt immer was zu lachen. Das tut mir gut. Der junge Mann sonntags, so charmant!
E: Wenn nur die Sache mit dem Kleinhirn nicht wäre.
I: Wieso, was ist mit dem Kleinhirn?
E: Die eine Übung. An der merke ich, dass mein Kleinhirn die Arbeit eingestellt hat. Die eine Hand drehen und den Fuß in die andere Richtung drehen. Also gegenläufig. Dann das Gleiche mit der anderen Seite. Das klappt bei mir nie. Deswegen, mein Kleinhirn macht mir echt Sorgen.
B: Aber das mit der Schnute, das bekomme ich gut hin. Kann ich auch ohne singen.
A: Ich habe auch einiges geändert.
E: Ach ja? Erzähl mal!
A: Ich trinke keinen Rotwein mehr.
B: Das ist doch echt mal etwas Positives.
A: Ich trinke jetzt Weißwein.
Alle anderen: ANNEMARIE!!!
G: Ich habe das Interview mit dem Professor angehört. Da habe ich einen mächtigen Schrecken bekommen. Die Aerosole – oder wie das heißt – wie die von der Empore, also wenn in der Kirche gesungen wird, und wir oben stehen, wie das dann auf die Kirchenbesucher herunterfällt, da ist mir ganz schlecht geworden. Dass Singen so schädlich sein kann.
I: Ich habe übrigens kürzlich – man darf ja wieder in die Stadt – den schönen Karl getroffen.
B: Wer bitte soll denn das sein?
I: Na, der Tenor, mit der schönen Stimme.
B: Aha. Also schön in jeder Hinsicht. Da ist er im Tenor doch nicht der einzige. Aber egal. Habt Ihr auch was Schönes besprochen?
I: Wir haben uns Gedanken gemacht, ob es nicht doch Möglichkeiten des gemeinsamen Singens geben könnte. Er klang ein wenig enttäuscht, dass so gar nichts stattfindet.
A: Tja, da ist er wohl nicht der einzige. Aber was soll denn schon stattfinden und vor allem wo?
I: Ein paar Minuten später habe ich Lore getroffen. Aus dem Sopran. Die hatte eine Idee. Treffen an einem Vormittag auf dem Schiffenberg. Die Alten, die nicht mehr arbeiten, die könnten doch. Fand ich eine gute Idee.
E: Aber wer redet mit dem Chef und fragt ihn? Bärbel, du vielleicht?
B: Nee, also ich, ach nee, das muss jemand anderes machen. Ich bin da zu, zu, zu, ich weiß auch nicht. Annemarie, du könntest doch . . .
A: Äh, keine Zeit. Das könnte doch Karl machen. Gabriele, rufst du ihn an?
G: Ich überleg´s mir. Die Idee im Freien zu singen, finde ich gut. Da gäbe es auch so etwas Schönes zum Üben. Und schön anziehen können wir uns doch auch, für das Singen im Freien, meine ich.
B: Bitte?
G: Hat doch die eine gesagt, sie bekommt Komplimente, weil sie immer so schick angezogen ist. Und dann hat sie gemeint, dass wir uns bloß nicht gehen lassen sollen, so kleidungsmäßig. Ich habe ganz erschrocken an mir runtergeguckt: Jogginghose, echt. Aber sie hat es ja nicht gesehen, zum Glück. Jetzt erzähle ich euch, was ich gelesen habe.
I: Aber bitte nix mit Psycho und so.
G: Nein, nichts mit Psycho. Aber das muss ja nicht immer unbedingt schlecht sein, also echt! Nein, ein Tipp aus der Zeitung. Felix Mendelssohns „Lieder im Freien zu singen“. Nun, den Schiffenberg kannte er nicht, aber wenn er den gekannt hätte, dann. . .
B: Meinst du, er hätte sich gewünscht, dass wir das singen? Der hätte vielleicht doch an andere Chöre gedacht?
G: Keine Ahnung. Googelt mal und hört es euch an. Ihr riskiert dabei nichts, gar nichts. Auch nicht als Risikogruppe.