Auf schwankendem Grund
Aux Champs-´Elysees
Aux Champs-´Elysees
Au soleil sous la pluie
A midi ou minuit
Il y a tout ce que vous voulez
Aux Champs-´Elysees.
„Wie ? Das hat er ernsthaft gesungen?“ „Naja, ernsthaft nicht gerade. Eher lächelnd. Auf der Treppe. Sah zu mir hoch – ich stand an der Tür zur Wohnung meiner Mutter und er am unteren Treppenabsatz – und sang.
Und wie kam er gerade auf diesen Altschlager? Er hatte gefragt, ob wir uns nicht mal treffen könnten, zu einer Tasse Kaffee, irgendwo in der Stadt und ich hatte ein Cafe´ in der Plockstraße vorgeschlagen und er hatte nur gemeint: Ah, dem Champs-´Elysses von Giessen? Wunderbar! Und dann gesungen.“
„Und sieht er auch aus wie Joes Dassin?“ „Wie wer?“ „Der Sänger, der den Schlager damals gesungen hat, so in den 70-igern.“ „Oh nein. Das war ja ein toller Typ. Nein, Viktor sieht eher aus wie Aljoscha Stadelmann.“ „Wer bitte ist Aljoscha Stadelmann?“ „Der spielt doch den Dorfpolizisten in den Harz-Krimis.“
„Ach, der sieht aber immer ein bisschen zerrupft aus. Und einiges jünger als du, oder? Und wirkt verpeilt, obwohl er sich dann als kluges Schlitzohr entpuppt. Meistens. Und natürlich den Fall löst.“ „Eben.“ „Mit dem willst du dich ernsthaft treffen?“ „Ja, warum nicht? Naja, unsicher war ich schon. Aber wir hatten ja vorher eine, wie soll ich sagen, schwierige Situation. Nach dem Möbel-Schleppen, Einpacken und Aussortieren in der Wohnung meiner Mutter, hatte da noch ein kleiner Koffer gelegen. Auf einem Sessel. Wie vergessen. Ich hatte den Möbelpackern gesagt: Das kann alles weg. Und da hat Viktor…“ „Du nennst ihn schon beim Vornamen?“ J „Ja, das hat sich so ergeben. Ich weiß auch nicht. Also. Viktor hat gemeint: Was ist denn in diesem niedlichen Koffer drin? Und der Sessel? Der soll wirklich weg? Ich war völlig genervt, wollte, dass alles bald erledigt ist, und meinte nur: Im Koffer sind alte Briefe. Was will ich mit alten Briefen? Und der Sessel ist ein Rest-Teil von meiner Tante. Tante Edith. Irgendwas muss mit meiner Stimme nicht gestimmt haben, als ich das gesagt habe. Viktor meinte: Warum soll das denn weg? Alte Briefe? Könnte doch interessant sein. Du könntest etwas von deiner Mutter erfahren. Oder über dich. Als du deine Tante erwähntest, hat deine Stimme ein bisschen gezittert.“ „Ah, Duzen tut ihr euch auch schon.“ „Ist doch jetzt egal. Viktor sagte dann noch: Du machst alles so schnell. Mit allem schnell weg. Als wolltest du mit nix mehr was mit allem zu tun haben, was deine Vergangenheit betrifft. Schnell und gründlich. Als könnte man sich alten Klamotten und alter Haut entledigen. Mir wurde plötzlich schwindlig und ich musste mich setzen. Und fing an zu weinen. Ich habe geweint und geweint und geweint. Es war furchtbar. Ich weiß auch nicht, was da über mich gekommen war. Aber es war auch so, dass da irgendetwas während des Geburtstages angefangen hat. Da ist was aufgerissen. Ich weiß auch nicht. Als gesungen und Klavier gespielt worden ist. Und meine Mutter… Na, du weißt schon. Du erinnerst dich an den Tag, als du mich morgens angerufen hast?“
ERSTE GESCHICHTE
Das knarrende Rad der Sehnsucht
(In Gedanken an Michael Krüger, im Holzhaus)
„Und du gehst dann heute Nachmittag sicher zu ihr?“ „Ja.“ „Ich finde es großartig, dass du die beiden Musiker für sie bestellt hast.“ „Das habe ich nicht gemacht.“ „Nein?“ „Nein, das war Anni. Die hatte die Idee.“ „Ach so. Anni. Die gute Seele. Dann wünsche ich dir einen schönen Nachmittag.“ „Danke. Aber ich werde nicht den ganzen Nachmittag bleiben können. Die Arbeit. Du verstehst.“ „Klar. Es ist ja nicht so leicht für dich. Ich meine, es wird ja nicht mehr so lange dauern.“ „Hm.“ „Ich wünsche dir viel Kraft für die nächste Zeit.“ „Hm. Ich muss jetzt. . . Danke, dass du angerufen hast.“ „Grüß sie bitte von mir. Ach, die Arme, so schwach. Und so allein. Na, gut, dass du nach ihr siehst. Ab und zu.“ „Ja,. . . Mach´s gut.“
Barbara warf noch einen Blick in die Zeitung, faltete sie zusammen und legte sie auf den Tisch. Dann nahm sie rasch einen Schluck Kaffee und tippte die Telefonnummer in ihr Handy. „Ja bitte?“ Mutters Stimme klang müde. „Mutter, ich bin`s. Ich wollte dir nur sagen, dass ich noch ein paar Dinge zu erledigen habe. Dann komme ich vorbei. Heute aber nur kurz. Ich habe wirklich wenig Zeit.“ „Ja, Liebes. Denkst du bitte daran, dass du mir den Wein mitbringst?“ „Stimmt. Den hätte ich beinahe vergessen. Den Rosé. Mach ich.“ „Es ist so still hier. Kommst du auch wirklich?“ „Doch, Mutter, ich komme. Mach` dir keine Sorgen. Ich muss dann nur schnell weg. Ich sage das schon mal, damit du Bescheid weisst.“ „Schnell weg. Ja. Du hast es eilig. Das ist ja . . . oft . . .“ „Mutter, jetzt nicht. Ich muss noch ein paar Emails checken, dann bin ich gleich bei dir.“ „Emails, ach so. Und du meldest dich, wenn du fast hier bist, ja? Du weißt, ich höre die Klingel manchmal nicht. Oder sie funktioniert nicht.“ „Klar, mache ich. Ich schicke dir eine Nachricht über WhatsApp. Leg dein Handy nicht so weit von dir weg, damit du es hörst.“ „Mein Handy? Wo habe ich das denn hingelegt? Gestern habe ich . . .“ „Mutter, ich muss jetzt auflegen. Du wirst es schon finden. Nachher kommt doch auch Anni. Frag sie nach dem Handy, die weiß das bestimmt.“ „Anni? Wer?“ „Mutter, die Frau, die bei dir im Haushalt hilft. Heute ist doch Mittwoch.“ „Mittwoch. Wirklich? Schon? Ach, Anni, klar. Da muss ich noch Geld hinlegen. Wo habe ich bloß mein Portmonee? Ich bin aber wirklich ziemlich wuschig heute. “ „Mutter, jetzt, wirklich . . .“ „Du musst. Mach`s gut, Kind. Bis nachher.“ „Ja. Bis nachher.“
„So, Mutter, hier ist der Rosé. Oh, ich sehe, du hast dir schon einen Tee gemacht. Schön. Die anderen Tassen sind wohl für deinen Besuch? Sogar das gute Teeservice. . . “ „Du klingst so komisch. Ist irgendetwas nicht in Ordnung? Warum ziehst du denn deinen Mantel nicht aus? Stehst da so rum. . . als wolltest du gleich wieder . . . Anni hat schon alles vorbereitet. Sie kommt gleich. “ „Ich kann nicht lange bleiben. Ich habe dir am Telefon schon gesagt, dass ich nicht viel Zeit habe. Wir haben nachher noch eine wichtige Konferenz. Und da muss ich . . .“ „Du musst. Ich weiß.“ „Bitte jetzt keine Vorwürfe. Du hast ja keine Ahnung.“ Barbara überlegte, ob sie nicht auf Anni warten sollte. Dann könnte sie sie fragen, was der Arzt gesagt hatte, als er gestern bei Mutter gewesen war. Anni genoss Mutters Vertrauen und war immer dabei, wenn der Arzt kam. Barbara entschied sich aber, nicht zu warten. Es war Annis Idee gewesen, die beiden Musiker einzuladen, denn, so hatte sie einmal mit Blick auf das Klavier ihre Mutter gefragt: “`Spielen Sie manchmal?“ Mutter hatte nur gesagt: „Nein! Das ist vorbei. Lange schon.“ Das hatte Anni Barbara erzählt und auch, was sie darauf Mutter geantwortet hatte: „Ein so schönes Klavier kann man doch nicht einfach schlafen lassen.“ Damit hatte sie Mutter zum Lachen gebracht. Ein Klavier, das schläft, das fand Mutter irgendwie lustig. „Aufwachen wird es nicht mehr“, hatte sie noch gesagt, und nicht mehr gelacht. Das Thema galt als beendet. Bis heute.
Barbara hielt ihren Autoschlüssel in der Manteltasche fest umklammert. Dann gab sie sich einen Ruck. „Ich gehe noch schnell ins Bad, dann fahre ich. Ich ruf` dich heute Abend noch mal an. Dann kannst du mir erzählen, wie es war. Okay? Also bis nachher, Mutter.“ Sie verschwand im Bad, kramte den Lippenstift aus ihrer Tasche und begutachtete ihre Haare vor dem Spiegel. Es klingelte. Barbara stöhnte kurz auf. „Na prima, da laufe ich dem Besuch direkt in die Arme. Eigentlich wollte ich doch längst weg sein. Mist“, dachte sie laut und rief Richtung Wohnzimmer: „Mutter, ich geh schon!“ und öffnete die Wohnungstür.
Anni stand ein wenig versteckt hinter einem Mann, der Barbara freundlich anlächelte. Lächelte er freundlich? Er schien verwirrt, seine Augen musterten sie, und ihre Blicke trafen sich. Für Sekunden schien es beide die Sprache verschlagen zu haben. „Ähm, wir möchten zu . . .“ „Ja, ich weiß, zu meiner Mutter. Kommen Sie bitte herein. Hallo Anni.“ Anni hatte die Verwirrung der beiden bemerkt. „Tag Frau Singfurt. Das sind Viktor und Maria. Ihre Mutter . . .“ „Meine Mutter erwartet Sie bereits.“ Im gleichen Moment fiel Barbara der Lippenstift aus der Hand und rollte Viktor vor die Füße. Alma bückte sich rasch. Viktor wollte ihr zuvorkommen und beinahe stießen ihre Köpfe zusammen. Sie musterten sich erneut. Barbara ärgerte sich über ihre Ungeschicklichkeit. „Entschuldigung“, murmelte sie etwas gehetzt. „Ich dachte . . . ich muss nämlich . . . eigentlich wollte ich . . . also, meine Mutter . . .“ Weiter kam sie nicht. Denn jetzt stützte Viktor sie am Ellenbogen und half ihr aufzustehen. Er lachte, während er ihr den Lippenstift reichte. Es hörte sich wie ein tiefes Brummen an, und seine Augen funkelten. „Der scheint sich ja prächtig über mich zu amüsieren“, dachte sie. Aber sie musste auch lachen, denn alles an dieser Situation war außerordentlich komisch. Das Komischste, fand sie, waren seine Augen. „Er guckt komisch, wie ein Spitzbube“, dachte sie. „Aber nicht aufdringlich. Vielleicht prüfend. Was will er denn prüfen?“ Barbara wunderte sich. Irgendetwas stimmte nicht. Sie musste doch weg. Man erwartete sie. Sie war sich aber nicht mehr sicher, ob sie unbedingt weg wollte. Sie war neugierig geworden. Hier war also der Mann, der das Klavier aus dem Schlaf holen sollte.
Die Erinnerung kam wie aus dem Nichts: „Hier scheiden sich wirklich unsere Geister. Wir haben unterschiedliche Geschmäcker, Mutter, und wir brauchen darüber nicht zu diskutieren. Das bringt einfach nichts. Du brauchst mich auch nicht immer wieder zu fragen, ob ich dich in ein Konzert begleiten will. Will ich nicht. Jedenfalls nicht in deine Konzerte. Das bringt einfach nichts. Ich langweile mich dort zu Tode. Also lass` es!“ Das hatte Barbara ihrer Mutter schon vor Jahren vorgehalten. Damit schien das strittige Thema Musik für beide endgültig beendet.
Sie standen immer noch an der Türschwelle. „Kommen Sie doch herein.“ Nacheinander betraten sie das Wohnzimmer. Mutter hatte sich von ihrem Sessel erhoben und stand etwas wackelig vor ihrem Besuch. Barbara unterdrückte ein Lachen, denn Mutter verschwand ja fast vor dem Hünen von Mann. Wie klein sie ihr plötzlich vorkam. Und schutzlos. Voller freudiger Erwartung blickte Mutter zu dem Fremden auf. „Wie wunderschön das ist, dass Sie gekommen sind. Anni hat schon viel von Ihnen erzählt. Ich freue mich sehr, dass das endlich geklappt hat. Nehmen Sie doch Platz, bitte. Möchten Sie einen Tee? Wissen Sie, meine Tochter und ich, also das ist . . . wir beide haben nicht unbedingt . . . ach, das ist jetzt auch egal. Liebes, wolltest du nicht gehen?“ „Ja, gleich. Aber vielleicht rufe ich doch besser im Büro an und sage Bescheid, dass . . .“ „Musst du nicht, Barbara, ist schon gut. Danke für alles. Ich komme zurecht. Und wenn nicht, dann hilft mir Anni. Nicht wahr, Anni?“
Barbara ging in die Küche und kam bald zurück. „Ich habe nur schnell Bescheid gesagt. Dass ich nicht komme. Ist schon okay“, fügte sie noch schnell und etwas atemlos hinzu. Sie erwähnte nicht, dass sie in der Stimme der Kollegin einen leichten Triumpf herausgehört hatte. „Ach du arme“ hatte Kati nur geflötet, musst bei deiner Mutter bleiben. Ist aber doch auch klar. Ich mache das schon und vertrete dich bei dem Meeting.“ Mutter schaute sie jetzt ungläubig und etwas überrascht an. „Dann hol dir schnell noch eine Tasse. Und stell dir noch einen Stuhl dazu. So rücken wir noch ein wenig zusammen.“ Sie kicherte. Dann wusste sie nichts mehr zu sagen. Auch die anderen schwiegen. Maria schlug im Wechsel ihre Beine übereinander und rutschte auf dem Sessel unruhig hin und her. Viktor lächelte, scheinbar belustigt, in die Runde.
„Kann er nicht mit dem blöden Lächeln aufhören?“ dachte Barbara, konnte ihrerseits aber nicht den Blick von ihm abwenden. Mutter nahm noch einen Schluck Tee und sagte dann: „Anni, können Sie den Herrschaften bitte noch Tee nachschenken?“ Anni stand schnell auf, aber Viktor bat sie, sich wieder zu setzen. „Wir sollten bald anfangen. Bitte, ich möchte nicht unhöflich sein, aber wir sind ja nicht wegen des Tees gekommen.“ Und zu Maria gewandt: „Was meinst du? Sollten wir nicht anfangen?“ Maria blickte erschrocken zu den anderen, unsicher, ob es nicht unhöflich war, dem Wunsch der Gastgeberin nach einer weiteren Tasse Tee für sich und ihre Gäste abzuschlagen. Sie nickte aber vorsichtig mit dem Kopf.
Viktor stand auf und ging zu dem Klavier, das etwas versteckt neben der Anrichte stand. „Das ist also das gute Stück.“ Er spielte einige Akkorde. „Oh, alter Junge. Du bist wohl auch ganz schön in die Jahre gekommen, was?“ Er schaute zu Mutter, die mit großen Augen dasaß und etwas ratlos wirkte. „Na, macht nichts. Irgendwann einmal muss das Teil hier zum Doktor. Oder der Doktor kommt zu ihm.“ Er lächelte, was Barbara ziemlich unpassend fand. „Wie peinlich“, dachte sie und doch wusste im nächsten Augenblick nicht, ob sie die Bemerkung Viktors peinlich fand oder das unbenutzte und in die Jahre gekommene Klavier. „Die äußere Aufmachung stimmt ja, aber die Innereien lassen gewisse Schwächen hören. Nun denn. Lassen wir uns nicht verschrecken. Maria, kommst du?“ Zu Mutter gewandt sagte er: „Anni hat gesagt, dass Sie Schubert-Lieder mögen. Wir werden also einige seiner Lieder vortragen, wenn Sie nichts dagegen haben.“ „Ich? Dagegen? Aber sicher nicht. Wo haben Sie denn Ihre Noten?“ „Die haben wir hier“, antwortete Viktor und tippte mit dem Zeigefinger an seine Stirn. „Oh“, entfuhr es Mutter. „Ja dann. Fangen Sie bitte an.“ Barabara bedauerte im gleichen Moment, hiergeblieben zu sein. „Schubert!“ Sie stöhnte leise auf. Bilder tauchten wieder auf. Verwirrende Erinnerungen. Ein Satz fiel ihr ein: „Du störst!“
Maria war von ihrem Sessel aufgestanden und setzte sich ans Klavier. Auch sie ließ ein paar Akkorde erklingen, spielte einige Läufe und gab dann durch Kopfnicken zu erkennen, dass sie bereit war. Viktor hatte sich neben das Klavier gestellt. Mürrisch schaute Barbara auf ihre Hände und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. „Gemütlich ist auch was anderes“, dachte sie noch, als Maria zu spielen und Viktor zu singen begann. „Zu Dionysos dem Tyrannen schlich . . . “ Es lag nicht am Text. Barbaras Gedanken sprangen, suchten einen Punkt. Bilder aus der Schule tauchten auf. Sie lächelte. Im Auswendiglernen war sie nicht schlecht gewesen. Sie blickte auf. Viktors Augen waren fest auf sie gerichtet. „Das sollst du am Kreuze bereuen.“ Dieser herrische Ton. Warum kroch er an Barbara hoch, wie eine sich ankündigende Katastrophe? Warum erschrak sie? Was war falsch? Im nächsten Moment änderte sich der Tonfall. Viktors Stimme klang weich. „Ich bin“, spricht jener, „zu sterben bereit.“ „Ja, schon.“ Alle hörten, was Barbaras Mutter leise gehaucht hatte. Keiner wagte etwas zu sagen und Viktor sang weiter. „Ich flehe dich um drei Tage Zeit.“ „Drei Tage . . . so viel Zeit haben wir nicht. Und ich . . .“ Mutter sah erschrocken auf. „Habe ich was Falsches . . . ?“ Die anderen wandten ihre Blicke ab. Viktor tat, als habe er nichts gehört, machte nur eine etwas längere Pause. „Frau Singfurt, soll ich vielleicht ein Glas Wasser holen? Schauen Sie, Ihre Mutter, sie sieht plötzlich so blass aus“, flüsterte Anni. Barbara winkte ab. „Jetzt nicht. Danke. Vielleicht später.“ „Doch dir ist die Strafe erlassen.“ „Wenn es so einfach wäre. Wird es nicht.“ Wieder hatte Mutter nur gehaucht.
Barbara verstand. Sie sah ihre Mutter vor sich. Mutter erwartete Besuch. Barbara, das Kind, sollte im Kinderzimmer bleiben. Eine ganze Stunde lang. Mutter erschien wie verwandelt. Sie lachte sogar, aus vollem Hals. „Mutter leuchtet“, dachte das Kind. Immer an diesem Tag, wenn Mutter sang, einmal die Woche, eine Stunde lang. „Meine glückliche Mutter“, hatte das Kind gedacht. Das Leuchten machte ihm Angst. Mutter würde bald weggehen. Für immer. Mit Herrn Schubert. Der eigentlich Wolfgang hieß und immer mittwochs kam. Zur Stimmbildung. Das Kind nannte es Mutters Leuchttag. Einmal hatte das Kind es gewagt zu fragen. Beim Abendessen mit Vater. „Mama, wirst du fortgehen?“ „Und schweigend umarmt ihn der treue Freund und liefert sich aus dem Tyrannen.“
Die Erinnerungen brachen plötzlich ab. Mutter sang nicht mehr, nachdem Barbara gefragt hatte. Das Leuchten war verschwunden. Sie ging nicht fort. Aber sie war auch nicht geblieben. „Anni, können Sie mir bitte die Decke bringen? Mir ist kalt.“ „Aber Mutter, das kann ich doch . . .“ „Nein, nein, Liebes, ist schon gut. Lass das ruhig Anni machen. Das brauchst du nicht. Ja, so ist gut. Danke, Anni.“ Viktor ließ sich nicht unterbrechen. „Tssss.“ Mutter schüttelte fast unmerklich den Kopf. „Dass einer, der so schöne Gedichte schreibt, so dumm sein kann.“ Keiner wusste, was sie meinte. Viktor ließ sich nicht beirren. Er setzte seinen Vortrag fort. Mutter redete einfach weiter, flüsternd: „`Dreht Schubert das knarrende Rad der Sehnsucht, als gäbe es eine Welt, die ihn nicht braucht.` Als g ä b e! Einfach lächerlich. Und so entsetzlich dumm. Der hier singt, der weiß es besser. Wie heißt er noch gleich? Wolfgang? Was meinen Sie, Anni?“ „Äh, ja, ich weiß jetzt nicht so genau, was . . . Nein. Das ist doch. . . Möchten Sie vielleicht noch eine Tasse Tee?“ Barbara sah zu ihrer Mutter hinüber. „Ihre Augen“, dachte sie. „Damit stimmt etwas nicht. Mutter entfernt sich. Entschwebt. Sehen das die anderen denn nicht?“ Barbara erschrak. Die Angst kannte sie. Panik. Es war nach dem Abendessen mit den Eltern gewesen, nach ihrer Frage. Mutter sah sie einfach nicht mehr. Wenn das Kind nach ihr rief, kam sie, sah aber über sie hinweg, als wäre sie Luft. Sprach in das Zimmer hinein, blickte sie nicht an, und ihre Stimme hörte sich leer an. Das Kind fühlte sich bestraft. Ohne zu wissen, wofür. „Die Sonne geht unter . . . und weinen vor Schmerz und Freude.“
Viktor schien von all dem nichts mitzubekommen. Barbara fühlte Wut in sich aufsteigen. Zur Ablenkung blickte sie auf die Hände ihrer Mutter, die ruhig auf der Decke lagen. „Sie wirken so friedlich“, dachte Barbara, „fast beruhigend. Früher sind sie mir so mächtig vorgekommen. Wenn sie mich festhielt. Festhalten, das konnte sie. Umarmen nicht. Zart waren sie eigentlich immer gewesen. Aber ohne diese Flecken. Und ohne Zärtlichkeit. Was sagen Hände eigentlich über einen Menschen aus? Konnte man an ihnen etwas von ihrer Seele erkennen, wenn man sie betrachtete?“ Barbara war verwirrt. Sie fühlte sich überrumpelt. Woher kam plötzlich diese entsetzliche Wut? Die ihr unbekannte Sehnsucht nach Zärtlichkeit? All die Erinnerungen und wirren Gedanken? Sie wollte aufstehen, Atem holen, an die frische Luft. Aber sie blieb sitzen. „Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn“, sang Viktor unverdrossen weiter, bis ihn Mutter unterbrach. Alle erschraken. Ihre Stimme klang plötzlich herrisch. „Sie besingen die Treue? Schiller und sein Wahn! Wie? Schubert! Man sollte beide abschaffen. Man braucht sie nicht mehr. Treue bringt Unglück. Wussten sie das nicht? Wenn man nicht mehr untreu sein darf! Ich weiß es. Wie es ist, wenn ein Tyrann die Treue erzwingt. Nicht wahr, Barbara?“ Sie schrie fast. Keiner wagte etwas zu sagen. Sogar Viktor schien verwirrt und beendete leise, wie in der Ferne verklingend, seinen Vortrag. Es herrschte Stille.
„Sie hat Fieber, das ist doch alles zu viel für sie“, dachte Barbara. Sie wollte aufstehen, etwas Beruhigendes sagen, irgendetwas tun. „Es ist vielleicht besser . . .“ Weiter kam sie nicht. Mutter war plötzlich in sich zusammengesunken. Ihr Atem ging stockend. Leise sprach sie: „Wisst Ihr, diese Sehnsucht. Sie tut so weh. Plötzlich ist alles grau. Es gibt nichts mehr. Nichts. Könnt Ihr Euch das vorstellen? Wie soll man denn mit dem Nichts leben? Ich konnte es nicht. Da habe ich einfach aufgehört zu atmen. Richtig zu atmen, meine ich.“ Maria hatte sich abrupt erhoben und kniete vor Mutter, nahm ihre Hände. „Heute spielen wir für Sie. Wir spielen diese Sehnsucht, weil wir sie kennen. Deshalb gibt es für uns diese Musik.“
Barbara war aufgesprungen. „Was bilden Sie sich ein? Kommen hier für einen Nachmittag vorbei und bringen meine Mutter durcheinander. Sehen sie nicht, dass das nicht geht? Anni! Gehen sie jetzt! Es ist alles zu viel.“ „Für dich, mein Kind. Nicht für mich. Ich weiß jetzt, wie es war. Damals. Als plötzlich alles abbrach.“ Mutter blickte Barbara nicht an, während sie sprach. Sie sah aus dem Fenster. „Siehst du den Baum dort? Er blüht. Er wird Kirschen tragen. Bald. Ich gehe jetzt. Wolfgang?“ Sie schaute zu Viktor. Dann zu Barbara. „Du verstehst einfach nichts. Weil du noch klein bist. Aber schon so vernünftig. So schrecklich vernünftig.“
Dann blickte Mutter zu Viktor. „Kennen sie das Lied ´Erster Verlust´? Ich wünsche mir, dass Sie das singen. Das wäre wirklich schön.“ Ihre Stimme klang schwach. Sie zitterte. Maria war aufgestanden und stellte sich neben Viktor. „Erlauben Sie, dass ich das singe? Für Sie? Es wäre mir eine große Ehre.“ „Ja können sie das denn? Ich meine, . . .“ „Ich werde es versuchen. Viktor? Darf ich mich nur kurz frisch machen?“ Anni begleitete sie zur Toilette, und als Maria zurückkam, schien sie wie verwandelt: das Haarband gelöst, fielen die Locken in wilder Pracht auf ihre Schultern. Lippenstift und geschminkte Augen verliehen ihr ein aufgeregtes Strahlen, und das Sweatshirt hatte sie durch ein Paillettenoberteil ausgetauscht. Alle staunten. Nur Viktor wirkte unbeeindruckt. Er kannte sie ja.
Er setzte sich ans Klavier. Maria sang:
„Ach, wer bringt die schönen Tage, jene Tage der ersten Liebe. Ach, wer bringt nur eine Stunde Jener holden Zeit zurück! Einsam nähr ich meine Wunde, Und mit stets erneuter Klage Traur ich ums verlorne Glück. Ach, wer bringt die schönen Tage, Jene holde Zeit zurück.“
Maria schien zu schweben. Keiner sagte etwas, als sie fertig war. Barbara verspürte den Wunsch, zu Mutter zu gehen, sich neben ihren Sessel zu knien und ihren Kopf in ihren Schoß zu legen. Aber sie wagte nicht sich zu bewegen. Mutter lächelte. „So ist es gut. Bitte ein Lied noch. Dann kann ich, . . . Maria, so heißen Sie doch? Können Sie bitte singen `Der Tod und das Mädchen`? Ich brauche Schubert. Und Claudius. Jetzt.“ Mutters Stimme wurde immer leiser. Ihre Glieder zuckten. Ihr Atem stockte nach jedem Wort. Maria zögerte, sang. „Das Mädchen.
Vorüber, ach, vorüber! Geh, wilder Knochenmann . . . “ „Nein, diese Strophe nicht!“ Die anderen erschraken. Mutters Stimme klang noch entrückter, aber irgendwie auch energisch. „Nur die andere Strophe. Sie wissen schon . . . Die letzte.“
Maria verstand. Sie sang:
„Gib deine Hand, du schön und zart Gebild! Bin Freund und komme nicht zu strafen. Sei gutes Muts! Ich bin nicht wild, Sollst sanft in meinen Armen schlafen.“
„Ja.“ Dann blieb es still.
„Mutter?“
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Tous les garcons et les filles de mon age
Se promenent dans la rue deux par deux
Tous les garcons et les filles de mon age
Savent bien ce que c´est qu´etre heureux
Et les yeux dans les yeux, et la main dans la main
Ils s´en vont amoureux dans peur du lendemain
Oui mais moi, je vais seule par les rues, l´ame en peine
Oui mais moi, je vais seule, car personne ne m´aime.
„Ja, so ungefähr war unser Lebensgefühl damals, als wir durch die Plockstrasse schlenderten. Wie trist es dort damals war. Meine Güte. Ich glaube, kein Baum, kein Strauch. Und einsam haben wir uns auch gefühlt. Oft. Oder?“ „Ich auf jeden Fall. Aber ein tolles Radio- und Fernsehgeschäft gab es. Meine Eltern jedenfalls lobten es in hohen Tönen. Erinnerst du dich an das Cafe´, das wir Cafe´ Hüftgold nannten? Ach übrigens, hat denn dein Treffen mit deinem Viktor stattgefunden? „Was heißt hier m e i n Viktor. Du spinnst wohl.“ „So ganz übertrieben finde ich das nicht. Schließlich bist du kaum zu erreichen oder hast nie Zeit. Und irgendwie kommt bei dir immer zur Erklärung der Name Viktor vor. Also, hab ihr euch getroffen?“ „Ja, haben wir. Aber auch nur, weil ich sowieso in die Plockstraße wollte. In das Möbelgeschäft.“ „Aha.“ „Da habe ich ein Sofa gesehen. Rot. Toll sieht das aus. Ich überlege, ob ich es mir leiste. Auf jeden Fall will ich etwas verändern.“ „Und da fängst du bei den Möbeln an? Bei dir sieht doch sowieso alles wie neu aus.“ „Findest du?“ „Neu und – entschuldige – auch ein bisschen wie unbewohnt. Als wärst du gar nicht wirklich dort. In deiner Wohnung, meine ich. Besuch hast du glaube ich auch nicht so oft. Oder?“ „Ich weiß nicht, was du meinst.“ „Überleg mal. Die Arbeit steht bei dir eindeutig im Vordergrund. Die meiste Zeit verbringst du dort. Oder nicht? Vielleicht solltest du gar nicht bei den Möbeln anfangen, wenn du etwas verändern willst.“ „Hä? Was soll das denn jetzt? Bin ich jetzt in deinen Augen psycho oder was?“ „Es ist nur so ein Gedanke. Immer kontrolliert, alles staub- ja nahezu keimfrei. Perfekt. Was ist übrigens aus dem kleinen Koffer mit den Briefen und aus dem Sessel von deiner Tante geworden?“ „Stehen bei mir im Keller.“ „Immerhin. Wenn du sie hochholst, ruf mich an. Vielleicht willst du nicht allein sein, wenn du die Briefe liest.“ „Meinst du?“ „Schon. Es ist nicht leicht, plötzlich etwas zu erfahren, mit dem man nicht gerechnet hat. Du warst nach dem Geburtstag deiner Mutter – und nach ihrem Tod – ziemlich durcheinander. Du hast selbst gesagt, dass da etwas aufgebrochen ist. Mit dem Singen deiner Mutter und so. Überhaupt, was mit Musik zu tun hat. Wie eine Wunde, die aufgeplatzt ist.“ „Viktor…“ „Der schon wieder!“ „Ja, schon wieder. Er hat gemeint, dass er denkt, ich würde vor diesem Thema – also der Musik – geradezu weglaufen.“ „Siehste.“ „Er will mich morgen in ein Konzert mitnehmen. Da gibt es Leute, denen die Musik eindeutig was bedeutet. Sagt er. Es nennt sich Mittagskonzert. Im Rathaus. Keine Ahnung, was mich da erwartet. Normalerweise hole ich da Salat aus der Salatbar. Morgen gehe ich also nicht in die Salatbar sondern in Konzert. Viktor…“ „Schon wieder. Bei mir klingelt`s.“ „Ja. Schon wieder. Er hat mir eine Geschichte erzählt, da im Cafe´ in der Plockstrasse. Die Geschichte von Jelena. Einer Zuhörerin im Mittagskonzert. Willst du sie hören?“ „Wenn´s nicht zu lang ist. Schieß los.“
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ZWEITE GESCHICHTE
Jelena
Wer ist Jelena? Sie putzt, bei ziemlich vielen Leuten. Das heißt, sie kennt sich in vielen Häusern und Wohnungen gut aus. Hier in der Stadt und auch auf manchen Dörfern oder Randgebieten unserer Stadt, Vororten, von manchen auch grüne Witwengegenden genannt, weil dort tagsüber nur Frauen wohnen, wenn überhaupt. Eigentlich gehen ja alle arbeiten, auch die Frauen, so dass diese Vororte tagsüber Leerstand haben – und Jelena freie Hand.
Jelena ist ca. Mitte Dreißig, sieht aber älter aus, verhärmter. Sie ist dünn, trägt die Haare lang zusammengebunden, und ihre Arbeitskleidung besteht aus Jeans und Sweatshirt, eben praktischen Sachen, in denen sie sich frei bewegen kann. Was in ihrem Fall heißt, sich bücken, auf Leitern klettern, schwere Sachen heben, dem Staubsauger hinterherlaufen, Staub wischen und vieles mehr.
Jelena hat viele Schlüssel, denn sie muss ja in die Häuser hineinkommen, wenn sie in ihnen arbeiten will. Oder muss. In manchen Häusern wird sie von den Besitzern empfangen, meistens von Frauen, die manchmal fragen, wie es ihr geht, und die dann gleich nach der Frage Anweisungen geben oder Kritik üben, was zum Beispiel beim letzten Mal nicht ordentlich gewischt worden ist.
Jelenas Deutsch ist schlecht, und sie kann nicht immer verstehen, was ihr gesagt wird oder was auf den Zetteln steht, die bereit liegen mit den Listen und Aufgaben. Es ist immer viel, wirklich viel, zu erledigen. Ihre Muttersprache ist Russisch, das macht das Lesen der deutschen Zettel schwer. Denn lange ist sie noch nicht in Deutschland, so ca. drei Jahre. Deutschkurse hat sie natürlich besucht, aber sie fand sie langweilig und hat nur das Notwendigste gelernt und ist lieber putzen gegangen. Sie kann aber sagen: ich heiße … oder: ich habe zwei Kinder…
Was sie nicht sagen kann, ist, was in ihrem Leben früher so passiert ist. Dass ihre Mutter Ärztin war und ihr Vater Ingenieur. Dass sie als Lehrerin gearbeitet hat. Sie geht davon aus, dass das alles ihre Arbeitgeber nicht wirklich interessiert. Sie soll ja putzen. Nicht mehr. Von ihrem Mann will sie nicht reden, denn der ist weit weg, und alles mit ihm ist eine schwierige Geschichte.
Jelena kann hier sein, weil sie früher ein J in ihrem russischen Pass hatte. Ein russischer Pass ist es aber gar nicht mehr, denn sie kommt aus einer der früheren Sowjetrepubliken, die heute ein eigener Staat sind. Mit einem mächtigen Präsidenten, der die Bewohner seines Landes wie seine Kinder behandelt, die er mit strenger Hand auf dem richtigen Weg bringen will. Der richtige Weg ist ER. Und Kinder, findet der Präsident, sollen sich nicht mit so schwierigen Sachen wie Büchern und so beschäftigen. Sie sollen Landeskunde lernen, brav sein, und wenn sie Medizin studieren wollen, dann reicht in seinen Augen eine bessere Krankenschwester- oder Krankenpfleger-Ausbildung, nicht so was Umständliches wie ein langwieriges Studium.
Das J bedeutet nichts oder viel, denn das J hat es möglich gemacht, dass Jelena in Deutschland sein kann. Deutschland nimmt alle auf, die ein J im Pass haben oder hatten. Das hat mit der Geschichte Deutschlands zu tun. Aber das führt uns auf Umwege. Jelena jedenfalls denkt, dass das J praktisch ist, dass es aber über sie eigentlich nichts aussagt. Denn gläubige Jüdin ist sie nicht. Obwohl sie zu der ein oder anderen Veranstaltung der jüdischen Gemeinde geht. Das allerdings selten.
Eigentlich ist Jelena wegen ihrer beiden Kinder in Deutschland. Und derentwegen putzt sie auch, denn Kinder brauchen außer Kleidung, Essen, Trinken, Handys und Kaugummi (letzteres wollen die Kinder unbedingt) auch Bücher. Das denkt zumindest Jelena. Sie träumt davon, dass ihre Kinder etwas Anständiges lernen, und das Anständigste wäre in ihren Augen, wenn sie Medizin studierten. Der Weg dahin ist steinig. An allen Ecken und Enden winken Probleme: die Sprache, die andere Kultur, andere Erziehungsvorstellungen, materielle Verwöhnung der Mitschüler. Richtige Freunde finden Jelenas Kinder nicht. Zumindest keine deutschen. Vieles müssen sie alleine bewältigen. Es wird viel passieren, bis beide auf einem richtig guten Weg sind. Aber sie werden es schaffen – auch wenn Jelena manchmal zweifelt, oder nahezu verzweifelt. Das lässt sie aber niemandem wissen, das mit der Verzweiflung.
Für Jelena sind Bücher wichtig. Gute Bücher, was in ihrer Vorstellung meint, Bücher von bekannten Schriftstellern. In ihrem früheren zuhause hat sie viel gelesen. Das hat sie stark gemacht, findet sie. Sie kennt alle bekannten russischen Schriftsteller, andere auch. Deutsche allerdings weniger. Das findet Jelena schade und deshalb staubt sie manchmal die Bücherwände in den Häusern besonders gründlich ab. Wenn es dort Bücherwände gibt. In manchen Häusern gibt es die nicht, sie nähmen zu viel Platz weg. Der wird für große Flachbildschirme gebraucht. Die sind leichter zu reinigen als Bücher. Für das Abstauben der Bücher nimmt Jelena sich mehr Zeit als für anderes. Soweit es ihre Deutschkenntnisse erlauben, liest sie dann die Buchtitel und Autoren. Einmal hat sie sich getraut, eine Chefin zu fragen, ob sie das ein oder andere Buch mit nach Hause nehmen darf. Für ihre Kinder. Denn die sollen sich in deutscher Literatur gut auskennen. In der Schule passiert, was das Lesen anbetrifft, in Jelenas Augen zu wenig. Die Chefin hat Ja gesagt, und so kann es sein, dass Jelena das ein oder andere Buch mit nach Hause nimmt. Sie bringt es auch wieder zurück. Und staubt es erneut ab.
Was Jelena niemandem sagt, weil sie sich nicht traut, ist, dass sie, wenn in einem Haushalt ein Klavier steht, sie sich da ab und zu dran setzt und spielt. Natürlich staubt sie es auch ab und viel Zeit nimmt sie sich nicht für das Klavierspiel, denn, wenn sie länger spielte, würde ja zu viel Arbeit liegenbleiben. Einmal hat sie Noten von sich mitgenommen, die schwierigsten, mit denen sie sich früher sehr abgeplagt hatte, als sie sie lernen sollte. Damals. Aber heute liebt sie sie. Sie sind für Jelena voller Erinnerungen. Es sind „Die Bilder einer Ausstellung“ von Modest Petrowitsch Mussorgski, die einzigen Noten, die sie in ihre Koffer gepackt hatte, für ihre Reise nach Deutschland. Jelena findet, dass sie nicht wirklich gut spielt, und das macht sie traurig. Trauer und Freude liegen aber eng beieinander, weil mache Erinnerungen sehr schön sind – die Paraden spielt sie eigentlich ganz gut, findet sie – und so fühlt sie eben beides, und ein Taschentuch hat sie ja immer dabei, für den Fall, dass die Trauer überhandnimmt.
Donnerstags zwischen zwölf und zwei Uhr mittags arbeitet Jelena nie. Diese freie Zeit verteidigt sie erfolgreich, auch gegen lockende Arbeitsangebote. Die Kinder können auch mal für längere Zeit allein bleiben. Das müssen sie sowieso öfter, wenn ihre Mutter putzt. Alle vier Wochen kann sie dann in ein Konzert gehen. Das kostet keinen Eintritt und findet verkehrsgünstig für Jelena mitten in der Stadt, gleich in der Nähe der Bushaltestelle, statt. Im Hermann-Levi-Saal des Rathauses, so nennt sich der Konzertort. Er gefällt ihr nicht so ganz, denn er sieht schlicht aus und gar nicht geschmückt, mit Verzierungen und so. Kein Gold. Kein Rot. Nur Braun. Sachlich eben. Neutral. Das stört Jelena aber schon lange nicht mehr. Daran hat sie sich gewöhnt. „Die Deutschen . . .“, denkt sie dann. Weil der Saal immer ziemlich voll ist, bemüht sich Jelena, pünktlich zu sein. Manchmal vergisst sie dann, sich ein Programm geben zu lassen. Wichtig ist ihr, dass sie richtig sitzt. Mittig, wo sie gut hören und manchmal gut sehen kann. Wenn nicht Leute vor ihr sitzen, die viel größer sind als sie. Aber auch das ist ihr eigentlich egal. Denn das Wichtigste für sie ist das Hören. Auch ohne Programm zum Nachlesen.
Heute ist so ein Donnerstag. Sie hat sich rasch gesetzt und wartet gespannt. Dann sieht sie: drei Personen kommen auf die Bühne, eine Flötistin, eine Geigerin und ein Cellist. Sie erklären, was sie spielen wollen. Hayden, den Namen kennt sie. Und andere Namen hört sie, die sie aber nicht versteht oder nicht kennt. Wahrscheinlich auch Mozart. Immer, wenn die Musik beginnt, verstärkt sich ihr Herzschlag. Manchmal beruhigt er sich auch wieder. Das muss aber nicht sein. Als sie an diesem Donnerstag die ersten Töne hört, schließt sie für einen Moment die Augen. Wenn jetzt irgendjemand von den vielen Menschen, die auch der Musik lauschen, ihre Blicke auf Jelena richten würden, wäre dieser Zeuge oder Zeugin einer Verwandlung. Jelenas Gesicht bekommt Farbe. Sie lächelt. Sie reist in ihre Träume. Sie trifft ihre Schüler und Schülerinnen von früher. Sie rennen lachend auf Jelena zu. Manchmal muss sie mit ihnen schimpfen. Vor allem mit den Jungs, die schon wieder wild herumtollen. Oder Jelena sieht Sternenhimmel über Schnee, so einen, wie sie ihn hier nie wieder gesehen hat, bis heute nicht. Sie sieht Wüste und riecht den Sand. Die Schülerinnenmädchen tanzen, ziemlich wild, und lachen. Jelenas Augen sind jetzt rund und groß, als sie sie wieder öffnet. Und als der letzte Ton verklingt, sitzt sie ganz ruhig und hofft, dass nicht zu schnell geklatscht wird, damit die Töne noch ein wenig in ihr bleiben können. Und die Träume. Denn sie hat Hoffnung gespürt. Hoffnung, dass sie es schaffen wird, das Leben hier, in der Fremde, wo ihr so vieles fehlt. Das Vertraute, Selbstverständliche von früher zum Beispiel. Und sie wird es schaffen, dass ihre Kinder studieren. Irgendwann einmal. Vielleicht werden sie Ärzte, helfen anderen Menschen, gesund zu werden, so wie ihre Mutter früher. Das wäre schön.
Es wird geklatscht. Jelena steht auf. Sie muss zum Bus, zu ihrer nächsten Arbeitsstelle.
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Non, rien de rien,
Non, je ne regrette rien.
Ni le bien, qu´on m´a fait,
Ni le mal
Tout ca m´est bien ´egal.
Non, rien de rien
C´est paye´, balaye´, oublie´
Je me fous du passe´.
„Seit wann bist du ein Fan von Edith Piaf?“ „Eigentlich überhaupt nicht.“ „Und warum läuft das dann in Dauerschleife auf deinem CD-Player?“ „Keine Ahnung. Vielleicht . . . Ich höre in letzter Zeit gerne Musik. Im Radio, im Theater, in der Kirche.“ „Aha. Ich sage nur: Viktor! Stimmt´s oder habe ich Recht?“ „Die Anregung, das stimmt. Die kommt von ihm. Aber eigentlich ist es eher so, dass, das habe ich dir neulich schon gesagt, da etwas aufgebrochen ist.“ „Aufgebrochen? Oder endlich brave Tochter? So wie deine Mutter dich gerne gesehen hätte, als sie noch lebte? Wann fängst du an zu singen, hä? Das wäre doch perfekt. No sports. Music!“ „Du bist zynisch. Richtig eklig. Eigentlich habe dich doch gebeten zu kommen, damit wir den Koffer öffnen, den von meiner Tante. Ich traue mich irgendwie nicht, es alleine zu tun. Jetzt weiß ich nicht, ob ich dich überhaupt noch dabei haben will. Ja, ich kann sagen, dass für mich – egal, ob alte Schlager oder klassische Konzerte oder so – da etwas aufgebrochen ist. So ganz ohne Worte. Als würden sich Türen öffnen. Ins Unbekannte.“ „Oh, the door opener. Interessant. Für die ganz großen Gefühle.“ „Komm, nimmt deinen Mantel und geh nach Hause. Tut mir leid, dass dir das alles so fremd ist. Sonst war ich immer die Fremde. Barbara eben. Heißt ja so. Die Fremde. Und jetzt, auch wenn die Töne manchmal total schräg klingen, habe ich das Gefühl, dass mir das nicht fremd ist, wenn ich das höre. Sondern im Gegenteil. Die Töne stehen sozusagen vor den Worten. Und jetzt, die Briefe. Ich hätte dich wirklich gerne an meiner Seite. Es hört sich ja vielleicht auch wirklich kitschig an, aber es ist für mich nicht einfach auszudrücken, was ich meine. Meine Tante Edith, der dieser kleine Koffer gehört hat, war eine ganz besondere Person für mich. Sie lebte auf dem Dorf, allein, hatte ein kleines Häuschen mit einem größeren Garten drum herum. Für Gemüse, Obst und Blumen. Wunderschön. Und für mich als Kind zum Toben. Mit Schaukel, Bäume zum Klettern, Sand zum Bauen. Tante Edith sang auch. Aber ich glaube nicht so gut wie meine Mutter. Sonntags ging es in die Kirche. Tantchen sang im Kirchenchor. Ich glaube, es war nicht gerade Konzert reif. Aber irgendwie schön. Sogar für mich als Kind. Tante Edith las mir gerne vor – in dem alten Sessel da saßen wir zusammen, eng aneinander gequetscht – ; sie hatte Zeit und es nie eilig. Und wenn ich schlafen sollte, sang sie Abendlieder. Sie hat sehr bedauert, dass ich nichts mit Musik am Hut hatte. Im Gegenteil. Mir ist jetzt fast zum Weinen zumute, aber meine Sommerferien bei Edith waren wirklich etwas Besonderes. Und wenn ich jetzt ihre Briefe lese, dann ist sie wieder da.“ „Entschuldige, ich wollte dich nicht . . . Es ist nur so alles so neu für mich. Du hast dich verändert. Nicht nur deine Wohnung. Das Sofa ist übrigens toll. Mutig, das rote Teil. Komm, wir öffnen die Flasche, die ich mitgebracht habe, hol schon mal die Gläser. Dann geht´s los.“