Wandern

Eine Bank! Endlich eine Bank!
Erschöpft ließen sie den Rucksack von der Schulter fallen. Dann nahmen sie mit einem tiefen Seufzer Platz. Er dachte: Sie schnauft aber ganz schön. Mehr als früher. Sie dachte: Dass Er mehr hinter als vor mir den Berg hinaufgegangen ist, kam früher nicht vor. Komisch.
Der Anstieg war länger und steiler als erwartet gewesen. Sie hatte die Karte studiert und den Weg ausgesucht. Brote, Äpfel und Saft waren schnell verstaut und ebenso schnell wieder ausgepackt. Erst einmal sagten sie nichts. Blickten sich um und staunten. Wie weit man sehen konnte! Der Himmel klar. Die Schönwetterwolken zogen vorüber und spielten mit dem Licht.
Der Anfang der Wanderung war leicht und schön gewesen. Das kleine Tal steckte sich verwunschen durch Obstwiesen und kleine Waldstücke. Am Wegesrand lagen bemalte Steine, mit einem Aufforderungshinweis versehen, dass Kinder doch eigene bemalte Steine mitbringen und ablegen könnten. Sie beide fanden das eine nette Idee und dachten sofort an Tom. Das wäre doch was für ihn. Die anderen sind noch zu klein. Oder vielleicht doch nicht?
Ein vergitterter Höhleneingang versprach Geheimnisvolles. Erst später lasen sie auf einer Hinweistafel für diese Gegend, dass hier bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein Eisenerz abgebaut worden war. Also hatte es sich um einen Stolleneingang gehandelt. Für Kinder gab es noch einige Motivüberraschungen, an denen sie raten sollten, um welches Märchen es sich handeln könnte, wie zum Beispiel ein Korb mit einer leeren Weinflasche darin und einer weißen Stoffserviette. Also war wohl Rotkäppchen hier auch vorbeigekommen?
An Märchen dachten sie dann aber immer weniger. Die Gedanken schweiften ab und hefteten sich an Atmung, Füße, Knie und Hüfte. Irgendwie mussten Puls und Gelenke in das richtige Tempo gebracht werden, ohne zu viel Schonung, aber auch ohne zu viel Anspruch an Kraft. Die Schritte wurden langsamer oder sagen wir besser gemächlicher. Sie hatten Zeit.
Beim Apfelkauen piepste es im Rucksack. Eine Nachricht. Guck doch mal nach, wer dir was geschickt hat. Das war Er. Er konnte es nie lange aushalten, wenn es piepste und wollte immer gleich wissen, was los war, wer sich gemeldet hatte. Sein Handy lag zu Hause, also folgte Sie seiner Bitte und schaute nach.
Das ist eine Nachricht von Ute! Sie las laut vor. Dann schwiegen beide wieder eine Zeit lang.
Was können wir ihr sagen, womit eine Freude machen? Wie kann man ihr die ganze Anstrengung ihrer Behandlung erleichtern? Dass Ute tapfer war, wussten sie. Dass Franz ihr verlässlich zur Seite sehen würde, wussten sie auch. Dass beide und ihr Sohn mit seiner Frau klug mit sich und all dem Drumherum umgehen würden, darin waren sie sicher. Aber sie fragten sich auch: Was können wir tun, womit sie trösten? Oder sie für einen kleinen Moment von der Anstrengung ablenken?
Sie schauten sich um und horchten. Was man hier alles hören konnte! Abwechselnd machten sie sich jetzt auf das, was in ihren Ohren klang, aufmerksam. Ich hab`s! Das sagte eine von den beiden. Wir schenken Ute ein Konzert! Ein Konzert vom Wald, von der Wiese, von den Vögeln.
Hör mal, die Grillen! Wie ein Chor schwirrte es um sie herum. Wind kam auf und ließ die Bäume leicht wiegen, begleitet von einem tiefen Rauschen. Beethoven, sagte sie. Celli und Bässe, ganz klar. Die Sehnsucht nach Freiheit schwingt in den Bäumen. Die Blätter in der allein stehenden Birke tanzten ausgelassen und sangen wie junge Mädchen in hohen Soprantönen. Von weit her vernahmen sie einzelne Vogelstimmen, und sie bedauerten, dass sie sich bei Vogelstimmen nicht besser auskannten. Es waren so viele. Woher kam das gleichmäßige Rauschen? Die weit entfernt stehenden Windräder hatten sie vorher nicht bemerkt. Irgendwo wurde gesägt. Die Moderne, sagte sie. Stravinsky ist jetzt dran. Das Industriezeitalter hält Einzug. Le Sacre du Printemps. Sie könnte ja Ute später einmal erzählen, dass sie mit diesem Musikstück als Ideengeberin eine Geschichte ausgedacht hatte, die zu Hause irgendwo in irgendeinem Ordner lag. Darin hatte Sie eine Familiengeschichte mit einer ausgedachten Theateraufführung und der Musik Stravinskys verwoben. Aber das war jetzt nicht wichtig.
Wichtig war, von der Schönheit zu erzählen, von Glück. Sie lauschten noch eine ganze Weile. Dann gingen sie weiter. Bergauf. Bis auf 540 Höhenmeter, wie sie, oben angekommen, stolz feststellten. Mit Blick über beinahe ganz Mittelhessen.
Es gäbe noch viel zu erzählen. Von den Wiesenblumen und Gräsern, die sie in dieser Vielzahl lange nicht mehr gesehen hatten. Klatschmohn, Kratzdistel, Schafgarbe, Hornklee – und dann die Gräser: Kammgras, Goldhafer, Wiesenschwingel und vieles, vieles mehr. Sie musste später aus lauter Neugier googeln und fand da beinahe alles, was sie gesehen hatten. Vielleicht würde sie ein anderes Mal davon berichten.
Das Ende des Wanderweges war lang. Viel länger, als sie sich vorgestellt hatten. An Atmung, Knie und Hüfte dachte man da besser nicht mehr. Sie überließen sich ihren Schritten, es ging ja jetzt auch abwärts. Bei dem einen oder anderen Schritt verdüsterten sich ihre Gedanken. Zu Hause dachte sie daran aber nicht mehr. Beide, Er und Sie, waren einfach nur froh, dass sie diesen wunderschönen Weg gegangen waren.
Und Ute hatten sie in Gedanken mitgenommen.