Das knarrende Rad de Sehnsucht
(In Gedanken an Michael Krüger)
„Und du gehst dann heute Nachmittag sicher zu ihr?“ „Ja.“ „Ich finde es großartig, dass du die beiden Musiker für sie bestellt hast.“ „Das habe ich nicht gemacht.“ „Nein?“ „Nein, das war Anni. Die hatte die Idee.“ „Ach so. Anni. Die gute Seele. Dann wünsche ich dir einen schönen Nachmittag.“ „Danke. Aber ich werde nicht den ganzen Nachmittag bleiben können. Die Arbeit. Du verstehst.“ „Klar. Es ist ja nicht so leicht für dich. Ich meine, es wird ja nicht mehr so lange dauern.“ „Hm.“ „Ich wünsche dir viel Kraft für die nächste Zeit.“ „Hm. Ich muss jetzt. . . Danke, dass du angerufen hast.“ „Grüß sie bitte von mir. Ach, die Arme, so schwach. Und so allein. Na, gut, dass du nach ihr siehst. Ab und zu.“ „Ja,. . . Mach´s gut.“
Alma warf noch einen Blick in die Zeitung, faltete sie zusammen und legte sie auf den Tisch. Dann nahm sie rasch einen Schluck Kaffee und tippte die Telefonnummer in ihr Handy. „Ja bitte?“ Mutters Stimme klang müde. „Mutter, ich bin`s. Ich wollte dir nur sagen, dass ich noch ein paar Dinge zu erledigen habe. Dann komme ich vorbei. Heute aber nur kurz. Ich habe wirklich wenig Zeit.“ „Ja, Liebes. Denkst du bitte daran, dass du mir den Wein mitbringst?“ „Stimmt. Den hätte ich beinahe vergessen. Den Rosé. Mach ich.“ „Es ist so still hier. Kommst du auch wirklich?“ „Doch, Mutter, ich komme. Mach` dir keine Sorgen. Ich muss dann nur schnell weg. Ich sage das schon mal, damit du Bescheid weißt.“ „Schnell weg. Ja. Du hast es eilig. Das ist ja . . . oft . . .“ „Mutter, jetzt nicht. Ich muss noch ein paar Emails checken, dann bin ich gleich bei dir.“ „Emails, ach so. Und du meldest dich, wenn du fast hier bist, ja? Du weißt, ich höre die Klingel manchmal nicht. Oder sie funktioniert nicht.“ „Klar, mache ich. Ich schicke dir eine Nachricht über WhatsApp. Leg dein Handy nicht so weit von dir weg, damit du es hörst.“ „Mein Handy? Wo habe ich das denn hingelegt? Gestern habe ich . . .“ „Mutter, ich muss jetzt auflegen. Du wirst es schon finden. Nachher kommt doch auch Anni. Frag sie nach dem Handy, die weiß das bestimmt.“ „Anni? Wer?“ „Mutter, die Frau, die bei dir im Haushalt hilft. Heute ist doch Mittwoch.“ „Mittwoch. Wirklich? Schon? Ach, Anni, klar. Da muss ich noch Geld hinlegen. Wo habe ich bloß mein Portmonee? Ich bin aber wirklich ziemlich wuschig heute. “ „Mutter, jetzt, wirklich . . .“ „ Du musst. Mach`s gut, Kind. Bis nachher.“ „Ja. Bis nachher.“
„So, Mutter, hier ist der Rosé. Oh, ich sehe, du hast dir schon einen Tee gemacht. Schön. Die anderen Tassen sind wohl für deinen Besuch? Sogar das gute Teeservice. . . “ „Du klingst so komisch. Ist irgendetwas nicht in Ordnung? Warum ziehst du denn deinen Mantel nicht aus? Stehst da so herum. . . als wolltest du gleich wieder . . . Anni hat schon alles vorbereitet. Sie kommt gleich. “ „Ich kann nicht lange bleiben. Ich habe dir am Telefon schon gesagt, dass ich nicht viel Zeit habe. Wir haben nachher noch eine wichtige Konferenz. Und da muss ich . . .“ „Du musst. Ich weiß.“ „Bitte jetzt keine Vorwürfe. Du hast ja keine Ahnung.“ Alma überlegte, ob sie nicht auf Anni warten sollte. Dann könnte sie sie fragen, was der Arzt gesagt hatte, als er gestern bei Mutter gewesen war. Anni genoss Mutters Vertrauen und war immer dabei, wenn der Arzt kam. Alma entschied sich aber, nicht zu warten. Es war Annis Idee gewesen, die beiden Musiker einzuladen, denn, so hatte sie einmal mit Blick auf das Klavier ihre Mutter gefragt: “`Spielen Sie manchmal?“ Mutter hatte nur gesagt: „Nein! Das ist vorbei. Lange schon.“ Das hatte Anni Alma erzählt und auch, was sie darauf Mutter geantwortet hatte: „Ein so schönes Klavier kann man doch nicht einfach schlafen lassen.“ Damit hatte sie Mutter zum Lachen gebracht. Ein Klavier, das schläft, das fand Mutter irgendwie lustig. „Aufwachen wird es nicht mehr“, hatte sie noch gesagt, und nicht mehr gelacht. Das Thema galt als beendet. Bis heute.
Alma hielt ihren Autoschlüssel in der Manteltasche fest umklammert. Dann gab sie sich einen Ruck. „Ich gehe noch schnell ins Bad, dann fahre ich. Ich ruf` dich heute Abend noch mal an. Dann kannst du mir erzählen, wie es war. Okay? Also bis nachher, Mutter.“ Sie verschwand im Bad, kramte den Lippenstift aus ihrer Tasche und begutachtete ihre Haare vor dem Spiegel. Es klingelte. Alma stöhnte kurz auf. „Na prima, da laufe ich dem Besuch direkt in die Arme. Eigentlich wollte ich doch längst weg sein. Mist“, dachte sie laut und rief Richtung Wohnzimmer: „Mutter, ich geh schon!“ und öffnete die Wohnungstür.
Anni stand ein wenig versteckt hinter einem Mann, der Alma freundlich anlächelte. Lächelte er freundlich? Er schien verwirrt, seine Augen musterten sie, und ihre Blicke trafen sich. Für Sekunden schien es beide die Sprache verschlagen zu haben. „Ähm, wir möchten zu . . .“ „Ja, ich weiß, zu meiner Mutter. Kommen Sie bitte herein. Hallo Anni.“ Anni hatte die Verwirrung der beiden bemerkt. „Tag Frau Singfurt. Das sind Viktor und Maria. Ihre Mutter . . .“ „Meine Mutter erwartet Sie bereits.“ Im gleichen Moment fiel Alma der Lippenstift aus der Hand und rollte Viktor vor die Füße. Alma bückte sich rasch. Viktor wollte ihr zuvorkommen und beinahe stießen ihre Köpfe zusammen. Sie musterten sich erneut. Alma ärgerte sich über ihre Ungeschicklichkeit. „Entschuldigung“, murmelte sie etwas gehetzt. „Ich dachte . . . ich muss nämlich . . . eigentlich wollte ich . . . also, meine Mutter . . .“ Weiter kam sie nicht. Denn jetzt stützte Viktor sie am Ellenbogen und half ihr aufzustehen. Er lachte, während er ihr den Lippenstift reichte. Es hörte sich wie ein tiefes Brummen an, und seine Augen funkelten. „Der scheint sich ja prächtig über mich zu amüsieren“, dachte sie. Aber sie musste auch lachen, denn alles an dieser Situation war außerordentlich komisch. Das Komischste, fand sie, waren seine Augen. „Er guckt irgendwie frech“, dachte sie. „Aber nicht aufdringlich. Vielleicht prüfend. Was will er denn prüfen?“ Alma wunderte sich. Irgendetwas stimmte nicht. Sie musste doch weg. Man erwartete sie. Sie war sich aber nicht mehr sicher, ob sie unbedingt weg wollte. Sie war neugierig geworden. Hier war also der Mann, der das Klavier aus dem Schlaf holen sollte.
„Hier scheiden sich wirklich unsere Geister. Wir haben unterschiedliche Geschmäcker und brauchen darüber nicht zu diskutieren. Das bringt einfach nichts. Du brauchst mich auch nicht immer wieder zu fragen, ob ich dich in ein Konzert begleiten will. Will ich nicht. Jedenfalls nicht in deine Konzerte. Das bringt einfach nichts. Ich langweile mich dort zu Tode. Also lass` es!“ Das hatte Alma ihrer Mutter schon vor Jahren vorgehalten. Damit war das strittige Thema Musik endgültig beendet.
Sie standen immer noch an der Türschwelle. „Kommen Sie doch herein.“ Nacheinander betraten sie das Wohnzimmer. Mutter hatte sich von ihrem Sessel erhoben und stand etwas wackelig vor ihrem Besuch. Alma unterdrückte ein Lachen, denn Mutter verschwand ja fast vor dem Hünen von Mann. Wie klein sie ihr plötzlich vorkam. Und schutzlos. Voller freudiger Erwartung blickte Mutter zu dem Fremden auf. „Wie wunderschön das ist, dass Sie gekommen sind. Anni hat schon viel von Ihnen erzählt. Ich freue mich sehr, dass das endlich geklappt hat. Nehmen Sie doch Platz, bitte. Möchten Sie einen Tee? Wissen Sie, meine Tochter und ich, also das ist . . . wir beide haben nicht unbedingt . . . ach, das ist jetzt auch egal. Liebes, wolltest du nicht gehen?“ „Ja, gleich. Aber vielleicht rufe ich doch besser im Büro an und sage Bescheid, dass . . .“ „Musst du nicht, Alma, ist schon gut. Danke für alles. Ich komme zurecht. Und wenn nicht, dann hilft mir Anni. Nicht wahr, Anni?“
Alma ging in die Küche und kam bald zurück. „Ich habe nur schnell Bescheid gesagt. Dass ich nicht komme. Ist schon okay“, fügte sie noch schnell und etwas atemlos hinzu. Mutter schaute sie ungläubig und etwas überrascht an. „Dann hol dir schnell noch eine Tasse. Und stell dir noch einen Stuhl dazu. So rücken wir noch ein wenig zusammen.“ Sie kicherte. Dann wusste sie nichts mehr zu sagen. Auch die anderen schwiegen. Maria schlug im Wechsel ihre Beine übereinander und rutschte auf dem Sessel unruhig hin und her. Viktor lächelte, scheinbar belustigt, in die Runde.
„Kann er nicht mit dem blöden Lächeln aufhören?“ dachte Alma, konnte ihrerseits aber nicht den Blick von ihm abwenden. Mutter nahm noch einen Schluck Tee und sagte dann: „Anni, können Sie den Herrschaften bitte noch Tee nachschenken?“ Anni stand schnell auf, aber Viktor bat sie, sich wieder zu setzen. „Wir sollten bald anfangen. Bitte, ich möchte nicht unhöflich sein, aber wir sind ja nicht wegen des Tees gekommen.“ Und zu Maria gewandt: „Was meinst du? Sollten wir nicht anfangen?“ Maria blickte erschrocken zu den anderen, unsicher, ob es nicht unhöflich war, dem Wunsch der Gastgeberin nach einer weiteren Tasse Tee für sich und ihre Gäste abzuschlagen. Sie nickte aber vorsichtig mit dem Kopf.
Viktor stand auf und ging zu dem Klavier, das etwas versteckt neben der Anrichte stand. „Das ist also das gute Stück.“ Er spielte einige Akkorde. „Oh, alter Junge. Du bist wohl auch ganz schön in die Jahre gekommen, was?“ Er schaute zu Mutter, die mit großen Augen dasaß und etwas ratlos wirkte. „Na, macht nichts. Irgendwann einmal muss das Teil hier zum Doktor. Oder der Doktor kommt zu ihm.“ Er grinste, was Alma ziemlich unpassend fand. „Wie peinlich“, dachte sie und doch wusste im nächsten Augenblick nicht, ob sie die Bemerkung Viktors peinlich fand oder das unbenutzte und in die Jahre gekommene Klavier. „Die äußere Aufmachung stimmt ja, aber die Innereien lassen gewisse Schwächen hören. Nun denn. Lassen wir uns nicht verschrecken. Maria, kommst du?“ Zu Mutter gewandt sagte er: „Anni hat gesagt, dass Sie Schubert-Lieder mögen. Wir werden also einige seiner Lieder vortragen, wenn Sie nichts dagegen haben.“ „Ich? Dagegen? Aber sicher nicht. Wo haben Sie denn Ihre Noten?“ „Die haben wir hier“, antwortete Viktor und tippte mit dem Zeigefinger an seine Stirn. „Oh“, entfuhr es Mutter. „Ja dann. Fangen Sie bitte an.“ Alma bedauerte im gleichen Moment, hiergeblieben zu sein. „Schubert!“ Sie stöhnte leise auf. Bilder tauchten auf. Verwirrende Erinnerungen. Ein Satz fiel ihr ein: „Du störst!“
Maria war von ihrem Sessel aufgestanden und setzte sich ans Klavier. Auch sie ließ ein paar Akkorde erklingen, spielte einige Läufe und gab dann durch Kopfnicken zu erkennen, dass sie bereit war. Viktor hatte sich neben das Klavier gestellt. Mürrisch schaute Alma auf ihre Hände und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. „Gemütlich ist auch was anderes“, dachte sie noch, als Maria zu spielen und Viktor zu singen begann. „Zu Dionysos dem Tyrannen schlich . . . “ Es lag nicht am Text. Almas Gedanken sprangen, suchten einen Punkt. Bilder aus der Schule tauchten auf. Sie lächelte. Im Auswendiglernen war sie nicht schlecht gewesen. Sie blickte auf. Viktors Augen waren fest auf sie gerichtet. „Das sollst du am Kreuze bereuen.“ Dieser herrische Ton. Warum kroch er an Alma hoch, wie eine sich ankündigende Katastrophe? Warum erschrak sie? Was war falsch? Im nächsten Moment änderte sich der Tonfall. Viktors Stimme klang weich. „Ich bin“, spricht jener, „zu sterben bereit.“ „Ja, schon.“ Alle hörten, was Almas Mutter leise gehaucht hatte. Keiner wagte etwas zu sagen und Viktor sang weiter. „Ich flehe dich um drei Tage Zeit.“ „Drei Tage . . . so viel Zeit haben wir nicht. Und ich . . .“ Mutter sah erschrocken auf. „Habe ich was Falsches . . . ?“ Die anderen wandten ihre Blicke ab. Viktor tat, als habe er nichts gehört, machte nur eine etwas längere Pause. „Frau Singfurt, soll ich vielleicht ein Glas Wasser holen? Schauen Sie, Ihre Mutter, sie sieht plötzlich so blass aus“, flüsterte Anni. Alma winkte ab. „Jetzt nicht. Danke. Vielleicht später.“ „Doch dir ist die Strafe erlassen.“ „Wenn es so einfach wäre. Wird es nicht.“ Wieder hatte Mutter nur gehaucht.
Alma verstand. Sie sah ihre Mutter vor sich. Mutter erwartete Besuch. Alma, das Kind, sollte im Kinderzimmer bleiben. Eine ganze Stunde lang. Mutter erschien wie verwandelt. Sie lachte sogar, aus vollem Hals. „Mutter leuchtet“, dachte das Kind. Immer an diesem Tag, wenn Mutter sang, einmal die Woche, eine Stunde lang. „Meine glückliche Mutter“, hatte das Kind gedacht. Das Leuchten machte ihm Angst. Mutter würde bald weggehen. Für immer. Mit Herrn Schubert. Der eigentlich Wolfgang hieß und immer mittwochs kam. Zur Stimmbildung. Das Kind nannte es Mutters Leuchttag. Einmal hatte das Kind es gewagt zu fragen. Beim Abendessen mit Vater. „Mama, wirst du fortgehen?“ „Und schweigend umarmt ihn der treue Freund und liefert sich aus dem Tyrannen.“
Die Erinnerungen brachen plötzlich ab. Mutter sang nicht mehr, nachdem Alma gefragt hatte. Das Leuchten war verschwunden. Sie ging nicht fort. Aber sie war auch nicht geblieben. „Anni, können Sie mir bitte die Decke bringen? Mir ist kalt.“ „Aber Mutter, das kann ich doch . . .“ „Nein, nein, Liebes, ist schon gut. Lass das ruhig Anni machen. Das brauchst du nicht. Ja, so ist gut. Danke, Anni.“ Viktor ließ sich nicht unterbrechen. „Tssss.“ Mutter schüttelte fast unmerklich den Kopf. „Dass einer, der so schöne Gedichte schreibt, so dumm sein kann.“ Keiner wusste, was sie meinte. Viktor ließ sich nicht beirren. Er setzte seinen Vortrag fort. Mutter redete einfach weiter, flüsternd: „`Dreht Schubert das knarrende Rad der Sehnsucht, als gäbe es eine Welt, die ihn braucht.` Als g ä b e! Einfach lächerlich. Und so entsetzlich dumm. Der hier singt, der weiß es besser. Wie heißt er noch gleich? Wolfgang? Was meinen Sie, Anni?“ „Äh, ja, ich weiß jetzt nicht so genau, was . . . Nein. Das ist doch. . . Möchten Sie vielleicht noch eine Tasse Tee?“ Alma sah zu ihrer Mutter hinüber. „Ihre Augen“, dachte sie. „Damit stimmt etwas nicht. Mutter entfernt sich. Entschwebt. Sehen das die anderen denn nicht?“ Alma erschrak. Die Angst kannte sie. Panik. Es war nach dem Abendessen mit den Eltern gewesen, nach ihrer Frage. Mutter sah sie einfach nicht mehr. Wenn das Kind nach ihr rief, kam sie, sah aber über sie hinweg, als wäre sie Luft. Sprach in das Zimmer hinein, blickte sie nicht an, und ihre Stimme hörte sich leer an. Alma fühlte sich bestraft. Ohne zu wissen, wofür. „Die Sonne geht unter . . . und weinen vor Schmerz und Freude.“
Viktor schien von all dem nichts mitzubekommen. Alma fühlte Wut in sich aufsteigen. Zur Ablenkung blickte sie auf die Hände ihrer Mutter, die ruhig auf der Decke lagen. „Sie wirken so friedlich“, dachte Alma, „fast beruhigend. Früher sind sie mir so mächtig vorgekommen. Wenn sie mich festhielt. Festhalten, das konnte sie. Umarmen nicht. Zart waren sie eigentlich immer gewesen. Aber ohne diese Flecken. Und ohne Zärtlichkeit. Was sagen Hände eigentlich über einen Menschen aus? Konnte man an ihnen etwas von ihrer Seele erkennen, wenn man sie betrachtete?“ Alma war verwirrt. Sie fühlte sich überrumpelt. Woher kam plötzlich diese entsetzliche Wut? Die ihr unbekannte Sehnsucht nach Zärtlichkeit? All die Erinnerungen und wirren Gedanken? Sie wollte aufstehen, Atem holen, an die frische Luft. Aber sie blieb sitzen. „Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn“, sang Viktor unverdrossen weiter, bis ihn Mutter unterbrach. Alle erschraken. Ihre Stimme klang plötzlich herrisch. „Sie besingen die Treue? Schiller und sein Wahn! Wie? Schubert! Man sollte beide abschaffen. Man braucht sie nicht mehr. Treue bringt Unglück. Wussten sie das nicht? Wenn man nicht mehr untreu sein darf! Ich weiß es. Wie es ist, wenn ein Tyrann die Treue erzwingt. Nicht wahr, Alma?“ Sie schrie fast. Keiner wagte etwas zu sagen. Sogar Viktor schien verwirrt und beendete leise, wie in der Ferne verklingend, seinen Vortrag. Es herrschte Stille.
„Sie hat Fieber, das ist doch alles zu viel für sie“, dachte Alma. Sie wollte aufstehen, etwas Beruhigendes sagen, irgendetwas tun. „Es ist vielleicht besser . . .“ Weiter kam sie nicht. Mutter war plötzlich in sich zusammengesunken. Ihr Atem ging stockend. Leise sprach sie: „Wisst Ihr, diese Sehnsucht. Sie tut so weh. Plötzlich ist alles grau. Es gibt nichts mehr. Nichts. Könnt Ihr Euch das vorstellen? Wie soll man denn mit dem Nichts leben? Ich konnte es nicht. Da habe ich einfach aufgehört zu atmen. Richtig zu atmen, meine ich.“ Maria hatte sich abrupt erhoben und kniete vor Mutter, nahm ihre Hände. „Heute spielen wir für Sie. Wir spielen diese Sehnsucht, weil wir sie kennen. Deshalb gibt es für uns diese Musik.“
Alma war aufgesprungen. „Was bilden Sie sich ein? Kommen hier für einen Nachmittag vorbei und bringen meine Mutter durcheinander. Sehen sie nicht, dass das nicht geht? Anni!“ Alma schrie. „Gehen sie jetzt! Es ist alles zu viel.“ „Für dich, mein Kind. Nicht für mich. Ich weiß jetzt, wie es war. Damals. Als plötzlich alles abbrach.“ Mutter blickte Alma nicht an, während sie sprach. Sie sah aus dem Fenster. „Siehst du den Baum dort? Er blüht. Er wird Kirschen tragen. Bald. Ich gehe jetzt. Wolfgang?“ Sie schaute zu Viktor. Dann zu Alma. „Du verstehst einfach nichts. Weil du noch klein bist. Aber schon so vernünftig. So schrecklich vernünftig.“ Dann blickte Mutter zu Viktor. „Kennen sie das Lied ´Erster Verlust´? Ich wünsche mir, dass Sie das singen. Das wäre wirklich schön.“ Ihre Stimme klang schwach. Sie zitterte. Maria war aufgestanden und stellte sich neben Viktor. „Erlauben Sie, dass ich das singe? Für Sie? Es wäre mir eine große Ehre.“ „Ja können sie das denn? Ich meine, . . .“ „Ich werde es versuchen. Viktor?“
Viktor setzte sich ans Klavier. Maria sang:
„Ach, wer bringt die schönen Tage,/ Jene Tage der ersten Liebe,/ Ach, wer bringt nur eine Stunde/ Jener holden Zeit zurück!/ Einsam nähr ich meine Wunde,/ Und mit stets erneuter Klage/Traur ich ums verlorne Glück./ Ach, wer bringt die schönen Tage,/ Jene holde Zeit zurück.“
Maria schien zu schweben. Keiner sagte etwas, als sie fertig war. Alma verspürte den Wunsch, zu Mutter zu gehen, sich neben ihren Sessel zu knien und ihren Kopf in ihren Schoß zu legen. Aber sie wagte nicht sich zu bewegen. Mutter lächelte. „So ist es gut. Bitte ein Lied noch. Dann kann ich, . . . Maria, so heißen Sie doch? Können Sie bitte singen `Der Tod und das Mädchen`? Ich brauche Schubert. Und Claudius. Jetzt.“ Mutters Stimme wurde immer leiser. Ihre Glieder zuckten. Ihr Atem stockte nach jedem Wort. Maria zögerte, sang. „Das Mädchen.
Vorüber, ach, vorüber! Geh, wilder Knochenmann . . . “ „Nein, diese Strophe nicht!“ Die anderen erschraken. Mutters Stimme klang noch entrückter, aber irgendwie auch energisch. „Nur die andere Strophe. Sie wissen schon . . . Die letzte.“
Maria verstand. Sie sang:
„Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!/ Bin Freund und komme nicht zu strafen./ Sei gutes Muts! Ich bin nicht wild,/ Sollst sanft in meinen Armen schlafen.“
„Ja.“ Dann blieb es still.
„Mutter?“